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Die unsichtbare Pyramide

Titel: Die unsichtbare Pyramide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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einem breiten Ledergürtel gehalten, an seinen Lenden herab. Aluuin nahm von einem Mitbruder den Tätowierstichel entgegen und vollzog symbolisch auf dem Schulterblatt das »Ritual der ersten Zeichnung«: Er deutete die Umrisse der Pyramide an, tupfte Farbe darauf und wischte sie mit einem Lappen wieder fort. Während der ganzen Zeit sangen die Brüder das schwermütige Lied. Als Aluuin sein Werk beendet hatte, hob er die Hände – in der einen den Stichel, in der anderen den fleckigen Lappen – und verkündete freudig: »Dieses war der erste Schritt. Möge ihm der zweite und diesem der dritte folgen. Sei uns willkommen, Bruder Trevir.«
    »So sei es!«, besiegelte der Chor das Ende der Initiation.
    Dann brach Jubel aus. Im Nu sah sich der Mann, der eben noch ein Knabe gewesen war, umringt von seinen Mitbrüdern. Trevir wurde umarmt, geküsst und mit Segenswünschen überhäuft. Die Gefährten liebten ihn. Sie waren seine Familie. Für kurze Zeit vergaß er sogar Aluuins Offenbarung, die ihn, wie er glaubte, zum einzigen Menschen seiner Welt machte, der nie Vater oder Mutter gehabt hatte.
    Wenig später erscholl wieder der Gesang vieler Stimmen über den Klippen, doch jetzt waren es überwiegend fröhliche Lieder. Es wurde gegessen und getrunken. Trevir durfte zum ersten Mal vergorene Schafsmilch kosten. Das alkoholische Getränk schmeckte ihm besser, als es für ihn zuträglich war. Bald saßen alle um ein großes Feuer herum und das Oberhaupt des Dreierbundes erhob die Stimme zu einer kleinen Rede. Der frisch gebackene Novize fühlte sich mittlerweile, als säße er in einem schwankenden Schiff.
    Vor langer Zeit, berichtete Aluuin, habe es die Menschheit in ihrer Unersättlichkeit beinahe geschafft, das Triversum aus den Angeln zu heben. In der Stadt, die man die Verbotene nennt, hatte das Unheil begonnen, sich aber schnell wie ein Lauffeuer über ganz Trimundus ausgebreitet. Damals sei die Welt und alles Leben darauf fast untergegangen. In jenen dunklen Tagen gründete der weise Abacuck die Bruderschaft des Dreierbunds. Nie mehr sollten Unkenntnis und Ignoranz das Gleichgewicht des Lebens gefährden. Hierzu sammelte er altes Wissen und studierte selbst den Rhythmus des Triversums. Ohne ihn hätte Trevir vermutlich unbemerkt die Welt betreten und wäre womöglich irgendwann ebenso sang- und klanglos wieder von ihr verschwunden. So aber habe er, Aluuin, vor vierzehn Jahren, als die Welten sich sehr nahe waren, ein Neugeborenes nach Sceilg Danaan gebracht. Heute, bei der nächsten großen Welle, sei Trevir ein Mann geworden. Mit seiner enormen Auffassungsgabe könne er in dreieinhalb Jahren, wenn sich die Gewalt der wogenden Welten erneut vereinige, schon in den zweiten Kreis des Wissens eintreten. Dreimal werden die Kräfte des Triversums danach noch verschmelzen: nach dreihundertzwanzig, achtzig und zuletzt nach nur zwanzig Tagen. Sodann berühren sie sich für einen langen Moment, um hiernach bis zu einer fernen Zukunft wieder ihrer eigenen Wege zu gehen.
    Aluuin drehte sich, gestützt auf den knorrigen Stab, langsam um die eigene Achse und wirkte dabei wie ein Greis. Nachdem er dieses Bild hinlänglich auf seine Zuhörer hatte wirken lassen, sagte er: »Ein Leben voller Aufopferung im Dienste des Dreierbunds – und das in einer Welt, die im Chaos zu versinken droht – kann einen Mann ziemlich erschöpfen. Daher beabsichtige ich, in nicht allzu langer Zeit mein Amt an Trevir abzutreten.«
    Ein Raunen ging durch die Gruppe. Wohl hatten fast alle damit gerechnet, aber Aluuins Eile überraschte sie dann doch.
    »Bevor ihr darüber disputiert, lasst mich zuerst aussprechen«, bat er mit beschwichtigender Geste und fuhr, nachdem wieder Ruhe eingekehrt war, fort: »Anfangs wollte ich euch vor den Gefahren schützen, die mit dem Wissen um die Gaben unseres jüngsten Bruders verbunden sind. Natürlich war das sehr einfältig von mir. Er lebte ja mitten unter uns. Ihr kennt seine Fähigkeiten so gut wie ich und wisst auch seit langem von dem Muttermal. Niemand von uns – und ich schließe mich da nicht aus – kann sich mit ihm vergleichen. Deshalb soll Trevir von Annwn, wie es ihm von Geburt an bestimmt ist, schon bald der Hüter des Gleichgewichts sein. Als günstigsten Zeitpunkt für diesen Wechsel habe ich die sechste und letzte Welle in Trevirs Leben bestimmt. Danach wird das Gleichgewicht für viele Generationen gefestigt bleiben. Ich hoffe und wünsche, dass in Trevirs Amtszeit eine bessere Epoche für die

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