Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die unsichtbare Pyramide

Titel: Die unsichtbare Pyramide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
Vom Netzwerk:
dieser – selbst für Trevir unerklärlichen – Ausweichbewegung konnte er der enormen Reichweite des Schwertes nicht ganz entkommen. Die Spitze der Klinge schlitzte seine Wange auf.
    Der Novize spürte nur einen dumpfen Schlag und taumelte mehrere Schritte zurück. Sofort setzte sein Gegner nach. Trevir spürte keinen Schmerz, aber als er mit der Hand seinen rechten Wangenknochen betastete, fühlte er etwas Nasses. Er blickte kurz auf seine blau leuchtenden Finger hinab. Sie waren voller Blut. Anstatt nun vielleicht in Panik zu geraten, bäumte sich sein Überlebenswille regelrecht auf. Er stieß einen wütenden Schrei aus. Auch der Krieger brüllte, wenn auch mehr aus Enttäuschung. Wieder holte er mit dem Zweihänder aus. Doch nun geschah etwas Überraschendes.
    Der Wind trug den Laut engelsgleicher Stimmen herbei. Unwillkürlich sahen die beiden Kontrahenten nach oben, als erwarteten sie auf einer über ihnen liegenden Klippe einen Chor zu erblicken. Doch der sonderbare Gesang kam weder von der Spitze des Inselberges noch aus dem Himmel. Er war überall. Wie die Luft. Wie die Nacht.
    Trevir erkannte das zuerst. Mit dem Lied schien eine unbändige Kraft in ihn zu strömen, deren Wesen ihm fremd war und zugleich wie ein nach Jahren zurückgekehrter Freund vertraut. Mit einem Ruck hob er den Arm und streckte dem Angreifer die offene Hand entgegen. Er stellte sich vor, die Waffe läge auf einer schiefen Ebene und ihr Schwerpunkt würde unerbittlich nach unten gezogen. Die Augen des Kriegers wollten ihm schier aus den Höhlen quellen, als plötzlich etwas Unsichtbares an seinem Schwert zu zerren begann.
    Im nächsten Moment war er entwaffnet.
    Der große Zweihänder schien gleichsam wie auf Schienen durch die Luft zu gleiten. Geschickt fing ihn Trevir am Griff auf. Erneut schrien beide, der Novize triumphierend, sein Widerpart entsetzt.
    Im nächsten Augenblick zerfiel das Schwert in Trevirs Händen zu Staub.
    Starr vor Schreck glotzte der schwarze Krieger den dünnen Kuttenträger an. Trevir erholte sich dagegen erstaunlich schnell von der enttäuschenden Verwandlung des Schwertes und schleuderte dessen staubige Überreste dem Kämpfer kurzerhand ins Gesicht.
    Der Gepanzerte brüllte abermals. Mit den Händen rieb er sich die Augen. Trevir wog rasch seine Lage ab. Hinter dem geblendeten Krieger herrschte das reinste Chaos. Einige Clochans waren eingestürzt, aus anderen loderten immer noch Flammen. Überall lagen die Leichen seiner niedergemetzelten Mitbrüder.
    Er konnte keinen einzigen Überlebenden sehen. Voller Grauen hob er die Hand vor den Mund. Und dann entdeckte er den leblosen Körper Aluuins. »Meister!«, stöhnte er. Alle Kraft schien aus ihm zu weichen. Sein Blick verschleierte sich unter Tränen. Undeutlich nahm er eine Gruppe waffenstarrender Krieger wahr, die gegen ihn vorrückte. Voller Bitterkeit musste sich Trevir eingestehen, dass es keinen Sinn hatte, ihnen entgegenzutreten. An diesem Ort gab es niemanden außer ihm selbst, den er noch retten konnte. Er wandte sich um und floh in die Dunkelheit.
     
     
    Grabesstille lag über den Clochans, die einst, steinernen Bienenkörben gleich, so voller Leben gewesen waren. Trevir saß mit tränenüberströmtem Gesicht mitten unter den reglosen Körpern seiner Mitbrüder, im Schoß den Kopf des toten Aluuin.
    »Warum?«, wimmerte er. Seine Lippen bebten.
    Die Zeit schien für ihn nurmehr ein undurchdringlicher Nebel zu sein, in dem es weder vorne noch hinten gab, weder Entfernungen noch irgendeine Orientierung. Trevir kam sich vor wie ein Verräter. Warum hatte ausgerechnet er, der Jüngste und Unerfahrenste, überlebt? Er wünschte sich, hier an der Seite seiner Brüder zu liegen. Hätte nicht wenigstens der Meister verschont bleiben können? Aluuins Herz war von einem einzigen Stich durchbohrt worden.
    Irgendwann war Trevir dann doch aufgestanden. Er schleppte die Leichname seiner Brüder in den Versammlungsbau, der den Flammen getrotzt hatte. Das tote Oberhaupt des Dreierbunds setzte er aufrecht in die Mitte des Raumes, die Übrigen darum herum. Zu Lebzeiten hatten Aluuins Gefährten ihn unzählige Male so umringt, ihn befragt, ihm gelauscht. Er sollte nicht allein im Haus des Todes wohnen.
    Als der Schüler seinem Meister den knorrigen Stab in die Arme legen wollte, hielt er unversehens inne. Er musste unwillkürlich lächeln, als vor seinen Augen das Bild des langbärtigen Alten erschien, der mit untergeschlagenen Beinen auf diesem Stecken gesessen

Weitere Kostenlose Bücher