Die unsichtbare Pyramide
drei Wellenberge zusammentreffen und dadurch eine ›große Welle‹ bilden, zu starken Verwirbelungen in der Zeit und im Raum kommen: Zwei Ereignisse, die sich eigentlich gleichzeitig zutragen, könnten sogar ›hin und her gerissen werden‹, als würde das eine vor und trotzdem auch nach dem anderen geschehen. Über diesen chaotischen Augenblick schrieb unser Ordensgründer: ›Wenn dort, wo sich die drei Welten am nächsten kommen, ein Kind geboren wird, dann muss es sich zwangsläufig in drei Wesenheiten aufspalten, sobald das Triversum wieder auseinander strebt.‹«
»Du meinst, ich lebe nicht nur hier auf Trimundus, sondern gleichzeitig auch in zwei anderen Welten?« Trevir fasste sich an die Stirn und schüttelte den Kopf.
»So in etwa. Leider sind Abacucks Ausführungen zu diesem Thema recht verschwommen. Er meinte, ein solches Kind könne die Kräfte des Triversums lenken, weil es selbst den Schwerpunkt der drei Welten bilde. Was deine Mitbrüder und ich nur lernen und mehr oder weniger stümperhaft anwenden können, das besitzt du seiner Anschauung nach von Geburt an. Deshalb macht es auch keinen Sinn, dir das Symbol auf die Schulter zu tätowieren. Du hast es ja bereits. Von Anfang an warst du dazu bestimmt, das Oberhaupt des Dreierbunds und einer der drei Hüter der Unsichtbaren Pyramide zu werden.«
Trevir blickte stumpf vor sich hin. Diese Schwerpunktsache gefiel ihm nicht. »Mir wäre es lieber, wenn ich ewig Schafe hüten könnte.«
»Manchmal wünscht man sich Dinge, die man gar nicht will, in der trügerischen Annahme, damit das kleinere Übel zu wählen. Lass dein Herz nicht schwer werden, Trevir, weil diese Neuigkeiten dich zu überwältigen scheinen. Du hast allen Grund, dich zu freuen. Denke immer an das Sprichwort: Wer in Hoffnung lebt, der tanzt ohne Musik.«
»Hoffen? Worauf soll ich denn hoffen, Meister?«
»Einmal der Trevir zu werden, der du wirklich bist, anstatt der, vor dem du gerade davonzulaufen versuchst.«
Der Junge nickte. Er würde gerne ein weiser Mann wie Aluuin sein. Jemand, der anderen mit Rat und Tat zur Seite steht. Die Würde und Bürde eines »Hüters des Gleichgewichts« erschien ihm dagegen wenig verlockend. Und was die ihm zugedachte Rolle als Angelpunkt des Triversums anbelangte – die hatte ihn gehörig in Schrecken versetzt.
Trevir und Aluuin standen sich auf der Klippe gegenüber. Unter ihnen erstreckte sich das Meer bis zum Horizont. Die Sonne war gerade erst untergegangen. Sie tauchte die Wolken im Westen in rotes Licht. Ringsum brannten Feuer. Hinter dem Jungen beobachteten fünfunddreißig Mitbrüder den Ablauf der Initiation – dem Orden hatten zu allen Zeiten nie mehr und selten weniger als drei mal zwölf Mitglieder angehört. Mit diesem Tag begann Trevirs Noviziat. Es würde frühestens enden, wenn ein anderer die Bruderschaft verließ. Bis zum Morgen hatte der Junge geglaubt, allein der Tod könne einen solchen Wechsel herbeiführen, doch offenbar gab es auch Ausnahmen. Wer mochte derjenige gewesen sein, dessen Name in den Clochans nie ausgesprochen wurde? Welchen Vergehens hatte er sich schuldig gemacht?
»Mit dem heutigen Tag wirst du, Trevir von Annwn, nicht mehr länger ein Knabe sein«, sprach das Oberhaupt des Dreierbunds die feierlichen Worte.
»So sei es!«, bekräftigten laut die Anwesenden wie aus einem Mund.
»Willst du von nun an die Zeit der Probe durchschreiten, damit du und wir Gewissheit über deine Bestimmung erlangen?«
»Ich will«, antwortete Trevir.
»So sei es!«, bestätigte der Chor.
»Willst du die Regeln des Bundes achten, sein Wissen vor Feinden behüten und deinen Brüdern Gehorsam erweisen, so wie sie dir in Demut dienen?«
»Ich will.«
»So sei es!«
»Gelobst du das Gleichgewicht zu achten, es zu bewahren und es niemals zu stören?«
»Ich gelobe.«
»So sei es!«
»Dreimal hast du dich unterworfen, nun sollst du erhöht werden. Empfange jetzt das Zeichen des Dreiecks, mit dem du Zutritt zum äußeren Kreis des Wissens erlangst.«
Der Chor hob zu einem dreistimmigen Gesang an, der wie die Insel der Stürme war: voller Kraft und Melancholie. Nach wenigen Takten trat aus ihren Reihen Bruder Qennouindagnas heraus. Auf seinen abgewinkelten Armen trug er eine Schafshaut, darauf lagen ein Tintenfass, ein sauberes Wolltuch und ein Tätowierstichel. Der Gehilfe blieb neben dem Ordensoberhaupt und dem Jungen stehen.
Trevirs Oberkörper war entblößt. Die aus schwerer Wolle gefertigte Kutte hing, von
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