Die unsichtbare Pyramide
Wundergläubige an. In dem Maße wie Franciscos blaue Aura verblasste, rückten seine Bewunderer näher. Bald war er von allen Seiten umringt. Hände wurden nach ihm ausgestreckt. Sie hielten Taschentücher, um wenigstens einen Blutstropfen aufzufangen, oder betasteten ihn, damit etwas von seiner Kraft auf sie übergehe. Manch weiter hinten Stehender bediente sich ruppiger Methoden, um auch zu seinem Recht zu kommen. Irgendjemand schrie: »Er ist ein Knecht des Beelzebub!« Was andere zu der Erwiderung veranlasste: »Du Hornochse, meinst du, der Teufel wagt sich an diesen geweihten Ort?« Die Begeisterung für den Wunderknaben überwog und sie drohte zunehmend in einen Tumult umzuschlagen.
Francisco, dem die mysteriösen Erfahrungen am eigenen Leib schon genügend Anlass zur Besorgnis gaben, bekam es nun richtig mit der Angst zu tun. Die Augen weit aufgerissen, suchte er nach einem Fluchtweg, den es aber nicht gab. Kurz sah er das Antlitz der Schönen in der wogenden Menge aufblitzen; sie hatte Augen so blau wie das Herz des Ozeans. Ihre Hand, zart und weiß wie ein wunderschöner Schmetterling, war nach ihm ausgestreckt, näherte sich seinem Gesicht. Ganz sacht berührte sie ihn, als hätte jener weiße Falter seine Wange geküsst. Dann drängten die anderen sie grob zurück und die Schöne verschwand, als hätte sie das aufgewühlte Meer verschlungen. Zwei blutrote Fingerkuppen waren das Letzte, was er von ihr sah.
Hierauf spürte er einen harten Schlag am Hinterkopf und verlor die Besinnung.
Francisco erwachte. Um ihn herum war es wunderbar still. Der Tumult schien nurmehr ein böser Traum zu sein. Sein Körper lag eindeutig nicht auf dem kalten Steinboden der Kirche, sondern auf einer Matratze. Der Junge schlug die Augen auf.
Bruder Pedro, über ihn gebeugt, hatte seinen Schützling eben noch sorgenvoll gemustert, doch jetzt begann sein Gesicht vor Glück zu strahlen. »Gelobt sei der Herr, du bist wieder unter uns!«
»Wo war ich denn?«, krächzte Francisco. Als er sich umsah, erblickte er die vertraute Schlichtheit seiner Zelle.
Der Guardian reichte ihm von einem Tischchen neben dem Bett ein Glas Wasser. »Das kannst nur du wissen, mein Sohn. Hier, trink einen Schluck.«
Francisco gehorchte. Als er den Kopf hob, durchfuhr ihn ein grauenvoller Schmerz und er stöhnte.
»Was ist?«, fragte Pedro besorgt.
»Ich habe das Gefühl, mein Kopf ist eine Glocke und irgendjemand schlägt andauernd mit einem Klöppel dagegen. Was ist mit mir passiert?«
»Jemand wollte dir den Teufel austreiben. Er meinte, mit einer dicken Altarkerze müsste es gehen. Zum Glück hat er nicht richtig getroffen. Du hast nur eine Gehirnerschütterung, sagt der Arzt.«
Francisco schloss für einen Moment die Augen, wartete, bis der Schmerz nachließ, und versuchte sich zugleich das Durcheinander vorzustellen, das nach Einsetzen seiner Ohnmacht in der Kirche geherrscht haben musste. »Die Leute werden mich in Zukunft noch mehr anstarren«, murmelte er bitter und hob erst dann die Lider.
»Damit wirst du leben müssen. Es stehen immer noch viele Kirchenbesucher vor der Klosterpforte und beten für deine baldige Wiederherstellung. Stündlich kommen neue hinzu. Ich fürchte, mein Sohn, das ›Wunder von La Rábida‹ wird bald ganze Scharen von Pilgern anlocken. Immerhin halten dich nur wenige für einen Besessenen. Die überwältigende Mehrheit teilt mit mir die Ansicht, dass du ein vom Herrn Gesegneter bist.«
»War es der himmlische Vater, der seinem Sohn die Wundmale beigebracht hat?«
»Wie kannst du so etwas sagen, Francisco!«
»Dann verstehe ich nicht, warum Gott mir die Wange aufschlitzt. Schreibt nicht Jakobus, der Bruder unseres Heilands: ›Lauter gute Gaben, nur vollkommene Gaben kommen von oben, von dem Schöpfer der Gestirne‹? Ich kann an einer aufgeschlitzten Wange nichts Gutes finden.«
»Jakobus hat aber auch – übrigens im selben Kapitel seines Briefes – geschrieben, wer zweifelt, gleiche einer Meereswoge, die vom Wind gepeitscht und hin und her getrieben werde. Solche Menschen könnten nicht erwarten, dass sie vom Herrn etwas empfangen; sie seien in sich gespalten.«
»Dann bin ich eben gespalten.«
Der Guardian schnappte nach Luft. Solche Widerworte war er nicht gewohnt. Aber dann besann er sich der besonderen Umstände – des Schlags auf den Kopf – und lächelte nachsichtig. »In deinem Alter ist es normal, sich innerlich zerrissen zu fühlen, Francisco. Versuche, etwas mehr Vertrauen in
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