Die unsichtbare Pyramide
Kirchenschiff in vollkommener Harmonie, beinahe so, als sänge da nur ein einziges überirdisches Wesen. Und das alles nur für ihn! Unwillkürlich bekam er eine Gänsehaut.
Die meisten Silben des Textes bestanden aus einer ganzen Folge von Tönen, die ruhig an dem Jungen vorüberzogen wie einzelne Wolken an einem strahlenden Sommertag. Und ebenso versunken, wie er manchmal im Kreuzgang des Klosters saß, und den immer wieder neuen »Wattefiguren« am Himmel nachschaute, starrte er jetzt die schöne Vorsängerin an. Zunächst schien sie seine Blicke nicht einmal zu bemerken, aber dann sah sie doch zu ihm herüber und Franciscos Herz hüpfte ein weiteres Mal.
Die Reaktion aufseiten der Schönen war hingegen anders als erwartet. Ihre Augen wuchsen mit einem Mal zu beträchtlicher Größe und plötzlich – gerade intonierte sie einen komplizierten Lauf – versagte ihre Stimme.
Francisco fühlte sich schuldig. Sein unverwandter Blick musste sie aus dem Konzept gebracht haben. Am liebsten wäre er im Boden versunken. Das Blut schoss ihm in den Kopf. Oder hatte dieses engelsgleiche Geschöpf etwa wie er empfunden, in ihm ein Spiegelbild des Herrn gesehen? War das Mädchen deshalb ins Stocken geraten? Jedenfalls wurde ihm schwindelig. Die Schwestern im Chorgestühl wirkten für ihn schlagartig wie eine ausgebleichte Fotografie, in der nur noch die Farbe blau übrig geblieben war. Aber es sollte noch schlimmer kommen.
Jetzt deutete das Mädchen auch noch auf ihn.
Mit ausgestrecktem Arm stand sie da und während ihr Zeigefinger unverwandt auf Franciscos Gesicht zielte, rief sie mit ihrer glockenhellen Stimme: »Er hat das Stigma des Herrn!«
Das war zu viel für den Jungen. Schamrot schlug er die Augen nieder und wünschte sich, unsichtbar zu werden. Genau das Gegenteil passierte. Während er noch den Blick starr auf die ineinander verkrampften Hände hielt, wurde ihm bewusst, dass diese leuchteten. Ja, sie strahlten zunehmend heller in einem blauen Licht, das direkt von jenen Sternen zu stammen schien, die er doch eigentlich der Vorsängerin hatte verehren wollen. O wie er diesen Wunsch nun bereute!
Auch in der unmittelbaren Umgebung hatte sich inzwischen einiges abgespielt. Gaspar war neben ihm aufgesprungen, um Abstand von dem möglicherweise nicht ganz ungefährlichen Nachbarn zu nehmen. Die geschlossene Formation der rechts und links vor dem Altar stehenden Klarissen löste sich rapide auf. Einige Schwestern rannten ängstlich in möglichst weit entfernte Winkel. Andere näherten sich sogar in ehrfurchtsvollem Staunen. Auch Guardian Pedro rückte langsam vor. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck besorgter Verzücktheit. Hinter sich vernahm Francisco ebenfalls aufgeregte Stimmen sowie das Knarren von Kirchenbänken.
Noch immer blickte er starr nach unten und nun sah er den ersten Blutstropfen.
Prall und schwer fiel er von irgendwo aus dem Gesicht des Jungen genau auf das schmale Stück des weißen Ärmels, das unter dem schwarzen Jackett hervorragte. Gleich darauf traf ein zweiter Tropfen Blut Franciscos Hand. Obwohl oder vielleicht gerade weil er nicht den geringsten Schmerz empfand, fuhr er entsetzt von der Bank auf; zugleich hob er den Kopf. Als die Klarissen nun direkt in sein Antlitz sahen, schreckten sie wie vor dem Leibhaftigen zurück. Die Schöne stand noch an ihrem Platz, den Handrücken an die Lippen gepresst, die Augen weit aufgerissen. Francisco konnte nicht verstehen, was da mit ihm geschah. Schwankend wandte er sich um.
Die Reaktion der nicht klerikalen Kirchenbesucher war noch niederschmetternder für ihn. Einige schrien vor Schreck. Andere schauderten zurück und rissen dabei Bänke um. Es gab aber auch etliche, die der Neugier erlagen und sich von ihm angezogen fühlten. Die einfachen Leute hatten mit dem Ausruf der Schwester zunächst nicht viel anfangen können. »Stigma? Was soll das heißen?«, raunten denn auch viele. Wer unter ihnen konnte schon Latein oder Griechisch und wusste, dass der Begriff nichts anderes als »Stich« bedeutete? Natürlich kannte man die Berichte von Menschen, die plötzlich die Wundmale Christi zeigten: blutige Spuren der Nägel an Händen und Füßen oder auch jene der Dornenkrone auf der Stirn. Aber hatte der Heiland auch eine Verletzung am rechten Wangenknochen gehabt?
Nachdem zumindest für die Schöne das blutige Zeichen des Jungen Beweis genug war, ihn als Empfänger eines himmlischen Zeichens zu identifizieren, schlossen sich auch zahlreiche andere
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