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Die unsichtbare Pyramide

Titel: Die unsichtbare Pyramide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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gleich auf die nächste Stufe, das Noviziat, gehoben, aber der Provinzialminister des Ordens hatte da nicht mit sich reden lassen: Der Knabe sei mit dem Postulat ohnedies sehr früh dran und müsse – in mancher Beziehung – erst noch wachsen.
    Die von oben verordnete ruhigere Gangart kam Francisco durchaus gelegen. Er sah sie als eine Art Galgenfrist, denn er fühlte sich keineswegs schon ausreichend gefestigt, um die Weichen für seine Zukunft zu stellen, eher im Gegenteil. So manches in seiner Kirche bereitete ihm Kopfzerbrechen. Da gab es Dogmen, die er trotz größter Anstrengungen nicht in Deckung mit dem Wort Gottes zu bringen vermochte. Wie etwa konnte Maria leibhaftig in den Himmel aufgefahren sein, wenn der Apostel Paulus doch schrieb, dass »Fleisch und Blut das Reich Gottes nicht besitzen können«? Selbst der Herr Jesus war, den Worten Pauli gemäß, »lebendig gemacht dem Geiste nach«. Wie ließen sich solche dogmatisierten Ungereimtheiten mit dem Anspruch vereinbaren, den einzig wahren Glauben zu lehren?
    Fast mehr noch irritierten Francisco allerdings die Widersprüche zwischen der Bibel und dem Handeln der heiligen Mutter Kirche. Ein Ordensgrundsatz der Franziskaner lautete: »Suche deine Rolle und bringe dich selbst in das Spiel des Lebens mit ein.« Francisco tat sich ungemein schwer mit der Art und Weise, wie der Klerus dieses »Spiel« betrieb. Als General Franco sich im Spanischen Bürgerkrieg von 1936 bis 1939 an die Macht gekämpft hatte, waren an die achthunderttausend Menschen ums Leben gekommen. Wie hatte der Bischof von Cartagena da sagen können: »Gesegnet sind die Kanonen, wenn das Evangelium in den Breschen blüht, die sie schießen«? Vor allem im Baskenland hatten aufseiten der Republikaner auch viele aufrichtige Katholiken gekämpft. Da war dann der eine Glaubensbruder mit dem Bajonett auf den anderen losgegangen und Kardinal Goma hatte das Ganze einen Kampf derer, die ohne Gott sind, gegen das wahre Spanien und die katholische Religion genannt. Rund vierunddreißig Jahre lang war der Diktator hiernach an der Macht gewesen – mit willfähriger Unterstützung des Klerus.
    Bruder Pedro hatte seinen Schüler zwar dazu ermuntert, »die Bibel als das Drehbuch der Geschichte Gottes mit uns Menschen zu betrachten«, aber Francisco wollte es trotz größter Anstrengungen nicht gelingen, darin eine Regieanweisung zum Töten von Mitgläubigen oder zur Kumpanei mit Diktatoren zu entdecken. Dagegen standen in der Heiligen Schrift unmissverständliche Mahnungen wie: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« Oder: »Wer sich mit der Welt befreunden will, verfeindet sich mit Gott.« So verwundert es nicht, wenn der Junge keine Entscheidung treffen wollte, die ihn am Ende in Gegnerschaft mit Gott bringen könnte. Er brauchte die Schonfrist, um alles noch einmal gründlich zu überdenken.
    Nun war es nicht sehr hilfreich, dass beim Nachsinnen über derart wichtige Fragen vor seinem geistigen Auge immer wieder bildhübsche Klarissen auftauchten. Sein seelisches Gleichgewicht, ohnehin schon in Schieflage, drohte darüber vollends zu kippen. Für die Außenwelt wurde das durch eine Reihe von Vorfällen bemerkbar. Francisco hatte Gläser umgeworfen, war über Türschwellen gestolpert und hatte Bruder Bartoleme – zugegeben, ein schmächtiges Mönchlein – über den Haufen gerannt. Sogar für die Beschäftigung mit den ägyptischen Hieroglyphen aus El-Karnak, die ihm bis vor kurzem vergnügliche Entspannung geboten hatten, fehlte ihm die rechte Muße. Man sollte glauben, die züchtige Ordenstracht von Klarissen wirke a priori eher dämpfend auf die sinnliche Phantasie eines jungen Mannes, aber bei Francisco war das anders. Etwa zwei Dutzend himmlische Wesen würden ihre glockenreinen Stimmen ganz allein für ihn erheben. Da durfte man schon etwas zerstreut sein.
    Als nun die Pforten der Klosterkirche endlich vor ihm geöffnet wurden, dröhnte zunächst einmal das Geläut aus dem Turm auf Francisco herab. Verglichen mit der riesigen, prachtvollen Kathedrale von Sevilla, in der er während seiner beiden Besuche der Stadt hatte beten dürfen, war das Gotteshaus hier geradezu winzig und bescheiden. Es besaß jedoch eine bewegte Geschichte, die Francisco, wann immer er in ihm verweilte, zu spüren glaubte. Hinzu kam an diesem Tag der außergewöhnliche Anlass für den Gottesdienst. Seine Knie waren wachsweich, als er das ehrwürdige Gebäude betrat und sich über die großen Steinplatten

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