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Die unsichtbare Pyramide

Titel: Die unsichtbare Pyramide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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zum Altar schleppte. Bruder Gaspar klebte wie ein Schatten an ihm; vermutlich fühlte er die Unsicherheit seines Freundes. Dahinter folgte in Zweierreihen eine Prozession von vierzehn Mönchen, alle in braunem Habit. Da Francisco noch nicht offiziell dem Orden angehörte, trug er normale Kleidung oder vielmehr das, was Bruder Pedro für einen solchen Anlass als normal ansah: schwarzer Anzug, weißes Hemd, schwarze Krawatte.
    Francisco empfand den Hemdkragen als Zumutung. Er bekam kaum Luft. Um nicht die Besinnung zu verlieren und weil er sich nur ungern durch allzu flammende Blicke auf die bereits im Chorgestühl wartenden Klarissen blamieren wollte, hielt er seine Augen starr auf das fünfhundert Jahre alte Kruzifix über dem Altar gerichtet. Dort wartete bereits Pedro in prächtigem Ornat. Er würde den Gottesdienst leiten.
    Als der Junge zwischen den dicht besetzten Bänken hindurchstolperte, kam er sich vor wie ein Delinquent auf dem Weg zur Hinrichtung. Im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit zu stehen behagte ihm nicht. Zu seinem Leidwesen besaß er, seit Pedro ihn als Findelkind aus dem Schnee gerettet hatte, eine gewisse Bekanntheit in den angrenzenden Gemeinden. Als seinerzeit nämlich die weiße Pracht, so schnell wie sie gekommen, wieder geschmolzen war, hatte jeder das grüne Dreieck im Garten vor dem Kloster sehen können. Zwar verblich der Fleck von Jahr zu Jahr mehr, aber immer noch hob er sich deutlich genug von seiner Umgebung ab, um jeden Eingeweihten an den 20. November 1975 zu erinnern – und derer gab es, wie die vollen Kirchenbänke zeigten, nicht wenige. Für Spanien besaß dieses Datum zudem historische Bedeutung, weil an ihm der Diktator General Franco hingeschieden war.
    Mit weichen Knien passierte Francisco die Celda de las Conferencias, die »Zelle der Gespräche«, in der Kolumbus einst mit den Mönchen von großen Entdeckungsfahrten geträumt hatte. Den Blick fest auf das Kruzifix geheftet, versuchte er die Klarissen am Rande des Gesichtsfeldes auszumachen. Je näher er ihnen kam, desto besser gelang ihm das. Sie trugen das für die franziskanische Bewegung typische Kastanienbraun und als Gürtel einen weißen Strick. Bei den meisten ließ der Habit nur die Hände und die Gesichter frei – manche waren faltig und alt, andere weiß und frisch wie der erste Schnee. Die Frauen und Mädchen hatten ausnahmslos weiße Schleier, was sie als Novizinnen auswies. Auch zwei oder drei Schwestern vom Dritten Orden waren zu sehen, die nicht unbedingt in klösterlicher Gemeinschaft leben mussten; die Professen des Zweiten Ordens hätte wohl selbst der »Wächter« von La Rábida nicht aus ihrer Klausur gelockt.
    Endlich erreichte Francisco seinen Platz in der vordersten Bank. Bruder Gaspar schob ihn in die richtige Position. Der Junge sackte auf seinen Sitz. Das letzte Gong! der bronzenen Glocke verhallte. Der Chor erhob sich zum Gesang.
    Und dann schwebte ein Engel durch den Raum.
    Nicht anders wirkte auf Francisco die reine, zarte, betörend helle und dabei doch ein wenig schwermütige Stimme der Vorsängerin, die sich aus dem gespannten Schweigen der Gemeinde erhob; sie konnte höchstens so alt wie er sein und musste, ihrem weniger strengen Habit nach zu urteilen, eine Kandidatin der Schwestern des Dritten Ordens sein. Ihre Augen strahlten wie blaue Sterne und mehrere dunkelbraune Strähnen ihres glatten feinen Haars lugten vorwitzig unter der Kopfbedeckung hervor. Franciscos Herz machte einen Sprung. Am liebsten hätte er in diesem Augenblick dem liebreizenden jungen Gesicht, das da mit entrücktem Blick unter dem lockeren weißen Schleier hervorschaute, die Sterne vom Himmel geholt.
    Nach kurzer Zeit schlossen sich der Schönen die Gefährtinnen an. Der cantus choralis bedurfte keiner Orgelbegleitung, um die versammelte Zuhörerschaft in sprachloses Entzücken zu versetzen. Die Eingangshymne war dem Kirchenlehrer Bonaventura gewidmet, möglicherweise ein von Bruder Pedro inszenierter Wink mit dem Zaunpfahl im Hinblick auf die Karriere seines Zöglings, denn der gerade besungene Heilige war einst Generalminister des Ordens gewesen. Francisco kannte das Lied – er pflegte selbst regelmäßig mit seinen Brüdern in diesem geschichtsträchtigen Bau zu singen –, aber er war im Moment für jegliche Hintergründigkeiten unempfänglich. Er konnte nur dem Gesang der Klarissen lauschen, den er wie süßen Honig schmeckte und darüber alles vergaß. Ihre elysischen Stimmen erfüllten das

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