Die unsichtbare Pyramide
die katholische Kirche einst El Generalissimo Cristianissimo de la Santa Cruzada nannte. Als Spross der Kirche dürftest du mit den ›Ruhmestaten‹ dieses ›allerchristlichsten Oberbefehlshabers vom heiligen Kreuzzug‹ vertraut sein – Francos Nationalisten haben im Bürgerkrieg zigtausende Anhänger der Volksfront ermordet.«
»Welche sich ihrerseits aber nicht davor scheuten, achttausend Mönche, Priester, Nonnen und Novizen umzubringen.«
»Du hast Recht, der Krieg kennt keine Sieger, nur Opfer. Doch darauf komme ich noch zurück. Zumindest dürfte klar sein, dass ein Mann, der so viel Blutvergießen verursacht und das Land fünfunddreißig Jahre lang mit eiserner Faust regiert hat, nicht ohne Feinde war. Der Hass seiner Gegner galt nicht nur dem Diktator, sondern auch seinen Unterstützern. Nun gründete Franco seine Macht auf zwei Hauptsäulen: den faschistischen Movimiento Nacional und der katholischen Kirche. Unser Vater, Pedro Alvarez, war ein persönlicher Freund des Generals. Als El Caudillo – der angeblich von allen geliebte ›Anführer‹ des Landes – starb, kam die Stunde der Abrechnung. Nach Einbruch der Dunkelheit drangen vermummte Männer in das Haus unserer Mutter ein. Sie müssen gewusst haben, dass Vater gerade bei ihr war, um ihr am Tag deiner Geburt Beistand zu leisten. Uns beide – dich und mich – fanden sie jedoch nicht, weil ich mich mit dir versteckt hatte. Als unsere Eltern nicht mehr lebten und es im Haus wieder still geworden war, schlich ich mich hinaus. Ich musste annehmen, dass sie auch uns töten wollten. Deshalb wollte ich mich nach England durchschlagen, wo entfernte Verwandte unserer Mutter lebten. Fast schon ein Mann, so überlegte ich mir, würde ich das schaffen können, aber mit einem Neugeborenen im Gepäck wäre der Plan von vornherein zum Scheitern verurteilt. Also überquerte ich mit dir den Rio Tinto, wartete vor dem Kloster, bis ich einen Mönch kommen sah, und legte dich in den Schnee. Wie die Geschichte weiterging, ist dir ja bekannt.«
Francisco war zu benommen, um Vicentes Bericht in Gänze zu erfassen. Nur einzelne Wörter waren wie Leuchtfeuer in seinem Bewusstsein emporgelodert: Vater, Mutter, Abrechnung, Mord, Schnee… »Das grüne Dreieck!«, flüsterte er.
»Wie bitte?«
»Bruder Pedro erzählte mir, er habe mich in einem Dreieck aus frischem Gras gefunden, mitten in einem Schneefeld.«
Vicentes Miene schien zu gefrieren. Seine Erwiderung klang seltsam tonlos. »Dann ist das also tatsächlich mehr als nur so eine Geschichte, eine Legende wie…«
»Das Blutmal in meinem Gesicht?«
»Ich habe die Narbe gesehen.«
»Wenn du willst, kann ich dir im Garten vor dem Kloster auch das Dreieck zeigen. Der dunkle Grasfleck ist zwar kaum noch zu erkennen, aber immer noch da. Wie erklärst du dir das?«
Mittlerweile war Vicentes Gesicht völlig erstarrt. Mit tiefer, fast beschwörender Stimme entgegnete er: »Mit den drei Welten.«
»Wie bitte?«
»Weißt du nicht mehr? Die Silbermünze. Ein Geldstück, das aus drei verschiedenen Welten kommt. Ich dachte, du würdest mich verstehen.«
»Ich verstehe nur Bahnhof, sonst nichts.«
»Schade. Aber das kann sich ja noch ändern. Ich bin da nämlich einer unglaublichen Geschichte auf der Spur. Unser Vater, der fromme Mann, hat sich mit Forschungen beschäftigt, die vielleicht nicht ganz im Sinne der Kirche gewesen sind. Schon als ich ein kleiner Junge war, hatte er mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit von der Unsichtbaren Pyramide erzählt.«
Francisco spürte ein Kribbeln im Nacken, das sich auf seinem Schulterblatt – dort, wo das Feuermal verborgen war – zu einem Brennen entwickelte. »Eine unsichtbare Pyramide?«
»Der Name steht für eine Art Orden mit drei Prioren und ihren Gefährten. Die Oberhäupter der geheimen Bruderschaft bilden gewissermaßen die Eckpunkte eines Dreiangels, der aus unserer und zwei weiteren Welten besteht.«
Francisco bekreuzigte sich. »Was ist das für ein gottloses Gerede! Der Herr hat nur eine Erde erschaffen, nicht drei.«
»Das will ich auch nicht in Abrede stellen, Bruderherz. Das Universum wurde zerrissen, lange nachdem es gebildet worden war.«
»Und solchen Humbug glaubst du, nur weil unser Vater es einem kleinen Jungen ins Ohr geflüstert hat? Vermutlich war in den Geschichten auch von Einhörnern und Gnomen die Rede.«
»Woher weißt du das?« Vicente lächelte. »War nur ein Scherz. Nein, ich nehme diese Überlieferungen sehr ernst, weil ich mich
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