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Die unsichtbare Pyramide

Titel: Die unsichtbare Pyramide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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geklungen. Er schaute von dem rotierenden Geldstück auf, mitten in die wissend funkelnden, graublauen Augen eines gut aussehenden Fremden. Der Mann war etwa Mitte dreißig, einen Meter achtzig groß, hatte üppiges aschblondes Haar, ein kantiges, aber freundlich lächelndes Gesicht und einen schweren Knochenbau, ohne dabei dick zu wirken. Er trug weder Habit noch Priestergewand, sondern blaue Jeans und ein rotes Poloshirt. Der Besucher streckte Francisco eine kräftige Hand entgegen und sagte: »Guten Tag, ich bin Vicente.«
    »Die nächste Heiligenvorführung ist erst am Samstag«, erwiderte Francisco kühl.
    »Ich bin mit dem Einverständnis des Guardians hier.«
    »Tatsächlich? Haben Sie ihm das da als Bezahlung angeboten, um mich mal ungestört aus nächster Nähe anschauen zu können?« Francisco deutete auf die Silbermünze, die gerade erneut zum Stillstand gekommen war. Erst jetzt fiel ihm auf, dass es sich um ein ziemlich abgegriffenes Geldstück handelte. Es musste sehr alt sein, der Prägung nach zwar spanisch, aber da hatte jemand tiefe Abdrücke in das Metall gestempelt, die ein bisschen wie die Fußabdrücke einer Krähe aussahen oder wie chinesische Schriftzeichen. Franciscos Forschergeist erwachte. Er nahm die Münze in die Hand. »Wo kommt die her?«
    Vicente grinste, als habe er einen kleinen Sieg errungen, und erwiderte: »Aus drei verschiedenen Welten.«
    Francisco sah genauer hin. Die Vorderseite der Münze zeigte das Profil eines Mannes, umkränzt von dem Schriftzug:
     
    CAROLINUS IIII · DEI GRATIA · 1808
     
    »Die wussten ja nicht mal, wie man römische Zahlen schreibt«, murmelte der Novize, schüttelte den Kopf und wandte sich wieder seinem Besucher zu. »Ein Acht-Real-Stück, aus echtem Silber, nehme ich an. Der Aufschrift nach stellt das Porträt Karl IV. dar. Das Ding wurde 1808 von der spanischen Münze geprägt. Von wegen drei Welten!«
    Vicentes Gutelaunegesicht strahlte noch ein bisschen heller. »Aha!«, machte er und dehnte dieses Wort zu einem ausgesprochen langen Laut. »Wir haben es hier mit einem analytischen Geist zu tun! Ganz in der Tradition so bedeutender franziskanischer Gelehrter wie Wilhelm von Ockham oder dem guten Roger Bacon, nicht wahr? Leider ist die Schlussfolgerung nur halb richtig, eigentlich sogar nur zu einem Drittel. Das gute Stück kommt aus Potosi, einer der berühmtesten spanischen Münzstätten Südamerikas. Seine Formgebung stammte zwar aus der Alten Welt, aber in der Neuen nahm sie Gestalt an.«
    »Wie sinnig! Sagten Sie nicht, das Ding komme aus drei verschiedenen Welten?«
    »Und ob! Sind dir die Gegenstempel nicht aufgefallen?« Vicente zeigte auf eine Ansammlung der von Francisco schon zuvor bemerkten sonderbaren Vertiefungen.
    »Sie meinen die Krähenfußabdrücke?«
    »Das sind chinesische Schriftzeichen.«
    »Na, so was!«
    »Hm, hm. Irgendein Provinzherr im Reich der Mitte hat das spanische Geldstück aus Südamerika durch diese ›Fußabdrücke‹ zum gültigen Zahlungsmittel für sein Territorium erklärt. Der Yüan ist nichts anderes als die chinesische Variante des spanischen Peso. Du siehst also: eine Münze, drei Welten.«
    Francisco empfand es als äußerst angenehm, von dem fremden jungen Mann noch nicht berührt worden zu sein. War Vicente etwa gar nicht gekommen, um sich die Heilung von einer tödlichen Krankheit, Erfolg im Geschäftsleben oder das baldige Ableben eines Feindes zu erbitten? »Was wollen Sie eigentlich, Vicente?«
    »Bitte sage du zu mir.«
    »Aus welchem Grund?«
    »Ich möchte dein Leben verändern. Habe ich das nicht schon erwähnt?«
    »Ich bin zufrieden, so wie es ist.«
    »Tatsächlich?«
    »Im Großen und Ganzen schon.«
    »Ahaaaa! Höre ich da eine kleine Einschränkung? Das ewige Bewundertwerden hängt dir wohl schon zum Halse raus.«
    Francisco zuckte die Achseln.
    »Wenn einer weder weiß, woher er kommt, noch wohin er gehen soll, dann fühlt er sich manchmal zerrissen und einsam – habe ich Recht?«
    Der Novize runzelte die Stirn. Woher wusste dieser Vicente, was in ihm vorging? Allmählich wurde ihm der Fremde unheimlich.
    »Können wir irgendwo unter vier Augen reden?«, fragte der Besucher, weil es seinem Gegenüber augenscheinlich die Sprache verschlagen hatte.
    »Meinetwegen«, willigte Francisco nach einem tiefen Atemzug ein. Er reichte dem Gast die Silbermünze und fügte hinzu: »Aber die römische Vier ist trotzdem falsch.«
    »Ja«, pflichtete ihm Vicente grinsend bei. »Die Römer müssen einen

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