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Die unsichtbare Pyramide

Titel: Die unsichtbare Pyramide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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mein halbes Leben lang intensiv mit ihnen beschäftigt habe. Eigentlich, seit ich kurz nach meiner Rückkehr aus England auf einige erstaunliche Dokumente gestoßen war. Das Klima in Spanien wurde unter König Juan Carlos mit jedem Tag freier. Deshalb wagte ich endlich Anspruch auf das Erbe meiner Mutter zu erheben. Zu meinem Leidwesen musste ich erfahren, dass sie vor ihrem Tod hoch verschuldet gewesen war und ihr Haus längst der Kirche gehörte. Unser feiner Vater hatte Estefania mit einem Darlehen ausgeholfen und den Franziskanerorden dafür in die Hypothek eintragen lassen – so viel zu eurem Armutsgelübde.«
    »Gemeinschaftlicher Besitz ist uns erlaubt«, konterte Francisco schnippisch.
    Vicente schmunzelte und ließ seinen Blick durch die weiß getünchte Zelle schweifen, die nach Ordensmaßstäben geradezu luxuriös ausgestattet war – sie verfügte neben Bett, Kleiderstange, Tisch und Stuhl auch über ein beachtlich prall gefülltes Bücherregal. »Vermutlich gehören die Wälzer da nicht dir allein, sondern der ganzen Bruderschaft.«
    »Allerdings.«
    »Schon enorm, dass sich fromme Kirchenmänner für ägyptische Hieroglyphen interessieren.«
    »Bist du hergekommen, um dich über mich lustig zu machen?«
    »Nein, um dir die Augen zu öffnen. Und was die Schliche unseres Vaters betrifft – ich habe ihm verziehen. Im Nachhinein hat er das allein Richtige getan. Die persönliche Habe meiner Mutter wurde nämlich nicht von gierigen Erben zu Geld gemacht und in alle Winde zerstreut, sondern von der Provinzialverwaltung eingelagert. Niemand schien die Kisten und Bündel genau untersucht zu haben. Deshalb bemerkte man auch nicht, welche Schätze sich darin verbargen – unser Vater besaß offenbar einige Dinge, die er nur ungern dem Konvent übereignen wollte. Dazu gehörte ein nicht unerhebliches Vermögen, das er zum Teil geerbt, aber auch durch wenig fromme Machenschaften vergrößert hatte. Mir ermöglichte es meine Ausbildung und die finanzielle Unabhängigkeit. Wichtiger war allerdings das geistige Erbe: alte Schriftrollen, Pergamente und Kodizes mit den Aufzeichnungen der Hüter des Gleichgewichts.«
    »Der… was?«
    »Ganz schön viel auf einmal, was ich dir da zumute, nicht wahr? Um es kurz zu machen: Das ist nur ein anderer Name für die Prioren der Unsichtbaren Pyramide. Unser Vater war der Letzte in einer langen Reihe von Hütern und offenbar wollte er mich zu seinem Nachfolger machen – daher die frühen Unterweisungen.«
    »Herzlichen Glückwunsch!« Francisco wusste noch immer nicht, was er von all dem halten sollte.
    »Dir erscheint das Ganze wie ein fauler Zauber, stimmt’s?«
    »Wie bist du nur darauf gekommen?«
    Vicente stützte seine Hände auf die Tischplatte und brachte sein Gesicht nahe vor das des Novizen. »Francisco, überleg doch mal! Die Drei ist mehr als eine normale Zahl. Denke nur an die Heilige Dreifaltigkeit. Wenn du dich etwas in der Bibel auskennst, wirst du mir zustimmen, dass dieses Wort nirgends darin vorkommt. Auch von einer ›Dreieinigkeit‹ ist da an keiner Stelle die Rede, obwohl die Lehre davon doch eine zentrale Rolle in der Kirche spielt. Christus selbst sagte im Hinblick auf das Jüngste Gericht: ›Jenen Tag aber oder die Stunde kennt niemand, auch nicht die Engel im Himmel, nicht einmal der Sohn, sondern nur der Vater.‹ Wie konnte Jesus so etwas behaupten? Als Teil einer dreieinigen Gottheit hätte er doch dasselbe Wissen gehabt wie sein Vater, oder? Warum wagte Satan den Sohn Gottes dreimal zu versuchen, wenn dieser der Allmächtige selbst war, gegen den er nicht die geringste Chance haben konnte? Weshalb betete Jesus bei seiner Hinrichtung: ›Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?‹? Wie hätte sich Gott selbst verlassen können? Auf welche Weise konnte er sich nach drei Tagen wieder auferwecken, da er doch tot war? Warum…«
    »Hör auf!«, schrie Francisco und hielt sich die Ohren zu. Sein Herz klopfte wie ein Hammerwerk. Er war nicht so sehr deshalb erregt, weil Vicente an seinem Glaubensfundament rüttelte, sondern vielmehr, weil er selbst schon diese Überlegungen angestellt hatte, obwohl die Trinität doch ein heiliges Geheimnis war, das zu hinterfragen an sich schon als Sünde galt. Nichts deutete darauf hin, dass irgendeiner der Bibelschreiber eine Dreiheit in Gott auch nur vermutet hätte, und trotzdem wurde sie von der Kirche als Dogma gelehrt. Diese Unstimmigkeit hatte ihm schlaflose Nächte bereitet. Und so wiederholte er

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