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Die unsichtbare Pyramide

Titel: Die unsichtbare Pyramide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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mir bisher erklärt hast, kann ich das kaum glauben.«
    »Gib mir bitte noch einmal die Silbermünze.«
    Francisco tat es.
    Sein Bruder ließ sie auf dem Studiertisch abermals rotieren und erklärte dazu: »Stell dir vor, wir hätten den Rand der Münze mit Farbe bestrichen und würden jetzt, während ihr Eiertanz immer flacher wird, an dieser Kante ein Papierband entlangwandern lassen. Was würdest du später auf dem Streifen sehen?«
    Der Novize brachte seine Augen dicht über die Tischplatte und beobachtete die Münze. »Ein Wellenmuster.«
    »Wie sähe das aus?«
    »Anfangs wären die Ausschläge weit und hoch, zum Schluss werden sie dann immer kürzer und flacher.«
    Die Münze beendete ihren Tanz.
    Vicente klatschte Beifall. »Und du willst nichts von Physik verstehen? Das war eine sehr exakte Beschreibung, von dem, was die drei Welten unseres Multiversums tun: Sie schwingen unablässig, erst langsam und weit, dann immer schneller. Dabei sind sie in einer Dimension jenseits von Zeit und Raum erst weit voneinander entfernt, kommen sich dann näher, gehen wieder auf Distanz, rücken einander noch näher, schwingen abermals auseinander, bis es schließlich in der größtmöglichen Annäherung zu einem Moment der Berührung kommt. Anschließend wird die Münze erneut geworfen, die Welten pendeln weit auseinander und das Spiel beginnt von vorn. Um das Multiversum wieder dauerhaft zu vereinen – es ›zusammenzufügen‹ –, muss man diesen besonderen Zeitpunkt der Konjugation abpassen und das am richtigen Ort. Verstehst du?«
    »Nein.«
    Vicente stöhnte. »Lass uns ein andermal darüber reden. Im Augenblick ist viel wichtiger, ob du mich unterstützt.«
    »Wobei?«
    »Na, beim Zusammenfügen.«
    »Abgesehen davon, dass ich deine blühende Phantasie bewunderungswürdig und auch ein bisschen beängstigend finde, kann ich dir nicht sagen, wann diese Konjugation stattfindet. Darauf willst du doch hinaus, oder?«
    »Am 15. Juli 1994.«
    »Ach, und um wie viel Uhr?«
    »Du darfst mir ruhig glauben, Francisco. Ausgehend vom Datum deiner Geburt müsste die nächste Annäherung bereits in drei Tagen eintreten. Dann folgen noch weitere drei in immer kürzeren Abständen. Die letzte findet, von heute an gerechnet, in vierhundertdreiundzwanzig Tagen statt, also am 15. Juli 1994.«
    »Wenn du das alles schon so genau weißt, wozu brauchst du dann noch mich?«
    »Nenne es Familienzusammenführung.«
    Francisco zog eine Grimasse. »So ganz uneigennützig ist dein Aufkreuzen hier wohl nicht. Oder hattest du nicht gerade erst einen ›Schlüssel‹ erwähnt, der in meiner Hand liege? Worum handelt es sich dabei genau?«
    »Also gut, ich will nicht länger um den heißen Brei herumreden. Du bist ein Fährtensucher, den die Kräfte des Multiversums auserkoren haben, um seine Wiedervereinigung zu ermöglichen. So ließe sich auch das Phänomen des frischen Grases erklären, das dich vor siebzehneinhalb Jahren vom Schnee fern hielt. Die nächste Annäherung der drei Welten fand vierzehn Jahre danach statt, genau an dem Tag, als das angebliche Stigma auf deiner Wange erschien. Ich bin fest davon überzeugt, dass du wie eine Kompassnadel von den Angelpunkten angezogen wirst, wo das Multiversum am Tag der größten Annäherung zusammengefügt werden kann.«
    »Wie soll das funktionieren?«
    »Das würde jetzt zu weit führen und ich habe dich ohnehin schon genug verwirrt. Sage mir einfach, ob du mit mir gehst?«
    Francisco verschluckte sich am eigenen Speichel und erlitt einen Hustenanfall. Diesen zog er dann gleich noch etwas in die Länge, um das Angebot erst einmal zu verdauen. Er hatte, von einigen Ausflügen abgesehen, sein ganzes Leben innerhalb des Klosters verbracht. Hier war er aufgezogen und zu einer Art Engel in Menschengestalt geformt worden, damit er bis zum Tod dem Allmächtigen diene. Die schützenden Mauern von La Rábida zu verlassen, erschien ihm wie der schlimmste Verrat – an Bruder Pedro, an seinen Mitbrüdern, an der Kirche, an Gott.
    »Ich kann nicht!«, keuchte er.
    »Und wieso?«
    »Weil alles, was ich bin, hier verwurzelt ist.«
    »Und die Bücher da?« Vicente deutete mit dem Daumen zum Regal.
    »Was soll damit sein?«
    »Sie enthalten die Gedanken von Männern und Frauen, die nie dieses Kloster betreten haben. Dein Geist hat La Rábida längst den Rücken gekehrt. Lass deine Füße folgen! Du musst dir nur ein Herz fassen.«
    Francisco vermochte sich der betörenden Logik dieser Argumente nicht ganz zu

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