Die unsichtbare Pyramide
vielleicht hast du das Buch gelesen. Darin wird beschrieben, wie der Teufel wegen seines Stolzes und seiner Rebellion aus dem Himmel hinausgeworfen wurde. Findest du nicht, Ricardo Bellver hat den Augenblick seines Falls trefflich in Szene gesetzt?«
»Mich schaudert, wenn ich das Ding ansehe.«
»Nicht wahr? Man gewinnt eine Ahnung von der Zerbrechlichkeit des Universums: Nichts ist, wie es scheint; nichts bleibt, wie es ist. Alles ändert sich.«
»Möchtest du mir etwa ein Geständnis machen?«
Vicente krauste die Stirn. »Ich? Inwiefern?«
»Ich finde, du hast mir etwas Wichtiges verschwiegen.«
»Was… willst du damit andeuten?«, fragte der Archäologe zögernd.
»Clara Alvarez y Moguer – sagt dir der Name irgendetwas?«
Vicente wirkte nun selbst wie eine Bronzestatue. Es dauerte lang, bis sich ein bekümmerter Ausdruck auf sein Gesicht legte und er leise sagte: »Ich hätte dir schon noch davon erzählt. Wie konnte ich denn ahnen, dass du meine Tochter kennst?«
»Was hast du ihr angetan?«
»Nichts, das unser Verhältnis als Brüder betrifft.«
»Clara sagte, du hättest ihr und ihrer Mutter Schmerzen zugefügt.«
Vicente warf die Arme in die Luft. »Herrgott, ich war jung! Mit sechzehn lernte ich Maria Moguer kennen und verliebte mich sofort Hals über Kopf in sie. Wir sprachen schon von Heirat. Dann überwältigte uns die Leidenschaft. Nachher brach sie in Tränen aus und ich – du kannst das jetzt vermutlich nicht verstehen – fing an sie zu verachten. Andererseits fühlte ich mich aber auch schuldig. Schließlich kam jener furchtbare 20. November des Jahres 1975. Du und ich waren nur knapp einer mörderischen Verschwörung entkommen, die unsere Eltern das Leben kostete. Ich hatte Todesangst! So stahl ich mich klammheimlich davon. Das ist mein ganzes Vergehen. Als ich später von Claras Geburt erfuhr, fühlte ich mich elend, das kannst du mir glauben. Nachdem ich mein Erbe angetreten hatte, schickte ich Maria Geld, mehr als in solchen Fällen üblich ist, und…«
»Geld!«, fiel Francisco seinem Bruder ins Wort. »Meinst du, man kann mit Geld wieder gutmachen, was du dieser Frau und ihrem Kind angetan hast? Clara hätte einen Vater gebraucht und nicht ein Bankkonto…«
»Francisco, bitte beruhige dich! Du hast ja Recht, aber glaube mir, ich wäre diesem Kind kein guter Vater gewesen. Versetze dich doch mal in meine Lage. Ich war damals jünger, als du heute bist. Da ist man einfach noch nicht reif für eine solche Verantwortung.«
Vicentes bußfertige Offenheit war nur schlecht dazu geeignet, Franciscos Zorn am Kochen zu halten. Im Kloster lernte man, dass Gott selbst schwere Sünden vergibt. Konnte er seinen Bruder da für eine Tat verteufeln, die er vor fast achtzehn Jahren begangen und längst bereut hatte? Sein nächster Tadel klang schon deutlich versöhnlicher. »Das ist dir reichlich spät eingefallen.«
»Du magst Clara, nicht wahr?«, fragte Vicente. Bedauern schwang in seiner Stimme.
Francisco musste einen dicken Kloß hinunterschlucken, bevor er nicken konnte.
»Ich bin dein Halbbruder. Das bedeutet, sie ist deine…«
»Ich weiß, was das bedeutet«, stieß Francisco hervor. »Wir werden nie ein Paar werden können. Ich wünschte, ich hätte früher auf Bruder Pedros feurige Appelle für den Zölibat gehört.«
Vicente legte seine Hand auf Franciscos Schulter. »Komm. Auch wenn du es jetzt noch nicht glauben kannst, aber eines Tages hast du Clara vergessen. Begleite mich und du wirst Dinge sehen, bei denen dir die Augen übergehen.«
Francisco ließ sich widerstandslos aus dem Park führen. Nur einmal noch drehte er sich um und warf einen letzten Blick auf den gefallenen Engel.
9
Der Gefangene von Zennor Quoit
Trimundus
Die Festungsanlage erinnerte Trevir an den kegelförmigen Sandsteinfelsen der Sturminsel. Es waren mitnichten heimatliche Gefühle, die sich da in dem versteckten Späher rührten, sondern die Erinnerung an Stürme, peitschende Gischt und eisige Kälte. Auch hier hörte man tief unten das gegen die Klippen brandende Meer. Mologs Burg ragte wie ein graues Ungetüm der Unterwelt in den wolkenverhangenen Himmel von Zennor Quoit. Anstelle von Hornplatten besaß sie ein schwer überschaubares Sammelsurium verschiedenster Türme und Erker, anstatt Schuppen verwitterte Steine und schmutzig grüne Fensterläden. Zur Mitte hin wurden die Gebäude immer höher. Das Zentrum der Anlage bildete ein kolossaler Bergfried.
Vom Waldrand her
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