Die unsichtbare Pyramide
Francisco sich eine Reihe von Regeln zurechtgelegt, nach denen er sein künftiges Leben ausrichten wollte: Du musst alles hinter dir lassen. Dreh dich nicht um, wie Lots Frau es getan hatte und zu einer Salzsäule erstarrt war. Vergiss diese jugendliche Verliebtheit; sie kann nie zu einer erfüllten Liebe werden. Blicke nach vorne. Suche dort die Antworten, um dein wahres Ich zu ergründen.
Er fand eine preiswerte Pension in der Calle de Villanueva, unweit des Triumphbogens Puerta de Alcala. Am nächsten Morgen stand er schon zeitig auf, frühstückte hastig und verließ das Haus. Eine Weile schlenderte er ziellos durch die Straßen, bewunderte die prachtvollen Herrschaftshäuser im Stadtteil Salamanca und staunte über den sich rasch beschleunigenden Pulsschlag der Metropole. Er kannte Madrid nur aus Büchern und dem Fernsehen. Irgendwann nahte die Mittagszeit und er musste sich mit einem Mal sogar beeilen, um rechtzeitig den Parque del Retiro zu erreichen.
Es war Sonntag. Die ausgedehnten Grünanlagen wurden von zahllosen Menschen heimgesucht wie ein frisch gesätes Feld von einem Vogelschwarm. Paare küssten sich im Gras oder schlenderten Hand in Hand über die Wege. Väter schoben Kinderwagen. Mütter beruhigten schreiende Sprösslinge. Amateurruderer schwitzten in strahlend weißen Booten auf dem Estanque, einem künstlichen See. Francisco nahm die Freizeitidylle nur am Rande wahr. Er musste an Vicentes Instruktionen denken: Ich warte jeden Mittag im Retiropark auf dich, unter der Bronzestatue von Ricardo Bellver. Wo, um des Allmächtigen willen, befand sich in diesem riesigen Park das Standbild?
Atemlos fragte er einige Spaziergänger. Niemand konnte ihm eine Antwort geben. Er hetzte den Paseo de Cuba hinauf und schalt sich im Stillen einen Esel, weil er zuvor die Zeit unnütz vertrödelt hatte, anstatt sich in diesem Labyrinth aus Promenaden, Wegen und Pfaden zu orientieren. Aber wie hätte er auch ahnen sollen, dass es in Madrid Parks von der Größe andalusischer Dörfer gab? Zu beiden Seiten zogen mächtige alte Bäume an ihm vorüber, deren Kronen sich bisweilen über ihm berührten, obwohl die schnurgerade Kuba-Promenade breiter als manche Straße der Stadt war. Dadurch bekam er den Brunnen und das daraus aufragende Denkmal erst spät zu Gesicht.
Aber dann stand Francisco vor der Statue.
Ihr Anblick weckte in ihm Bewunderung, aber auch Beklemmung. Auf einem weißen Steinsockel zeigte sie einen nackten Mann mit vollendeten Proportionen, strubbeligem Haar und weiten Schwingen. Ein Engel!, begriff Francisco. Er kannte aus Büchern die Skulptur des Laokoon. Wie der trojanische Priester, so kämpfte auch dieser grimmig dreinblickende Cherub mit Schlangen – sie wanden sich um sein Bein und das rechte Handgelenk. Halb lehnte er noch auf einem Felsen, halb war er schon gestürzt. Ein Schauer lief Francisco über den Rücken, als ihm ein Straßenschild am Rand der asphaltierten Plaza den Namen der Bronzeplastik verriet:
PLATZ DES GEFALLENEN ENGELS
Erst jetzt begriff der Novize, wen er da vor sich hatte. »Satan!«, hauchte er verblüfft. Das war ihm neu: Die Stadt Madrid hatte dem Herrscher der Dämonen ein Denkmal gesetzt. Es zeigte den Teufel nicht etwa als einen abstoßenden Gehörnten in Tiergestalt, sondern als schönen, jedoch korrupten Engel. Unwillkürlich kamen Francisco die Worte aus dem Buch Hesekiel in den Sinn: »Du warst die Vollkommenheit selbst, voll Weisheit und erlesener Schönheit. In Eden, dem Gottesgarten, lebtest du. Vollkommen hatte ich dich geschaffen und du bliebst es, bis du in Sünde fielst. Deine Schönheit hatte dich überheblich gemacht; aus lauter Eitelkeit hattest du deine Weisheit preisgegeben und warst zum Narren geworden. Ein Bild des Schreckens bist du geworden, für alle Zeiten ist es um dich geschehen…«
»Na, das nenne ich eine Überraschung!«
Francisco zuckte heftig zusammen und fuhr herum. »Vicente, hast du mich erschreckt!«
»Entschuldige, Bruderherz. Lass dich drücken.« Der Forscher breitete die Arme aus, aber Francisco wich zurück. »Was ist?«, fragte Vicente. »Bist du sauer, weil ich mich ausgerechnet unter diesem Standbild mit dir verabredet habe?«
»Ein anderer Treffpunkt wäre mir tatsächlich lieber gewesen. Was hast du dir dabei gedacht?«
Vicente grinste von einem Ohrläppchen zum anderen und zuckte die Achseln. »Nichts Besonderes. Ich mag diese Bronzestatue. Sie erinnert mich an Das verlorene Paradies von John Milton –
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