Die unsichtbare Pyramide
Obwohl ihm somit jeder Verfolger blind hätte folgen können, holten ihn weder Polizisten noch irgendwelche Passanten ein. Vielleicht stillten ja der durchgedrehte Taxichauffeur und sein fahrbares Aquarium die Neugier des Publikums.
Mit immer noch leicht tropfender Kutte erreichte Francisco das schmale Haus. Im Licht der Straßenlaterne sah er gelbe, abblätternde Farbe, Balkone aus geschwungenen Eisengittern und ein paar Blumentöpfe. Zwei Reihen von Fensterpaaren befanden sich über der Eingangstür. Ganz oben rechts brannte noch Licht. Es war Claras Zimmer.
Francisco wusste, dass sie eine seiner Leidenschaften teilte: Sie las gerne und viel. Er hob einen kleinen Kiesel auf, warf ihn zum Fenster empor – und verfehlte das Ziel. Unglücklich starrte er auf den feuchten Streifen, den er mit tausenden von Tröpfchen aus seinem nassen Ärmel an die Hauswand gemalt hatte. Francisco wagte einen zweiten Versuch und diesmal traf er. Das Klacken der Scheibe ließ ihn zusammenfahren. Er rechnete damit, binnen Sekunden in sämtlichen Fenstern der Straße hundert Köpfe erscheinen zu sehen, aber kein einziger schaute heraus. Nicht einmal Clara. Francisco suchte sich einen dritten Stein. Diesen wählte er etwas kleiner, zielte gut und warf. Klack! Wieder getroffen!
Er wartete. Und wartete.
Mit einem Mal bewegte sich ein Schatten an der Decke des Zimmers entlang. Gleich darauf wurde einer der beiden hohen Fensterflügel geöffnet und Clara erschien. Franciscos Herz machte einen Satz. Sie trug ein weißes Nachthemd, unter dem sich schwach ihre schlanke Gestalt abhob. Als sie nach unten blickte, rutschte ihr volles Haar über die Schulter nach vorn. Sie musste es erst mit der Hand aus dem Gesicht streichen, um den nächtlichen Steinewerfer zu betrachten.
»Francisco?«
»J-« Ihm versagte die Stimme. Nie hatte er sie so gesehen. Er räusperte sich und raunte: »Ja, ich bin’s.«
»Du musst von Sinnen sein, mitten in der Nacht hier aufzukreuzen! Und wieso stehst du in einer Pfütze?«
»Weil ich pitschnass bin. Hast du ein paar trockene Sachen für mich?«
»Warte!«, flüsterte sie und verschwand.
Wenig später wurde die Tür geöffnet. Aus dem Haus drang ein lautes Schnarchen. Jetzt trug Clara Bluejeans und eine weiße Bluse. Sie musterte ihn von oben bis unten, rümpfte die Nase und hauchte: »Was ist mit dir passiert?«
»Könnte ich zuerst von der Straße runter? Ich möchte nicht gerne gesehen werden.«
»Meine Mutter wird dich riechen. Sie schläft direkt über uns.«
»Man hört es. Weißt du ein Versteck für mich?«
»Das Haus hat einen Patio. Aber wir müssen leise sein, damit die Nachbarn nicht aufwachen.«
Clara hielt sich die Nase zu und deutete mit der anderen Hand in einen dunklen Flur.
Francisco huschte an dem Mädchen vorbei, durch den Gang und von diesem in einen kleinen Innenhof, der von einer Lampe schwach beleuchtet wurde. Blumentöpfe mit Palmen und anderen Pflanzen sowie ein Tischchen mit zwei Korbsesseln waren zu sehen.
»Buh, warum stinkst du nur so nach Fisch?«, fragte Clara lauter als beabsichtigt.
»Das kann ich mir auch nicht erklären. Er war ganz frisch.«
»Und das da?« Sie tippte an Franciscos Ärmel. Als sie ihren Zeigefinger wieder löste, klebte daran ein Schleimfaden, den sie zu enormer Länge dehnte. »Was hast du angestellt?«
»Nichts.«
»Ach! Und warum siehst du dann aus wie durchgekaut und ausgespuckt?«
»Ich erzähle dir alles, wenn ich nur erst aus den Sachen herauskomme. Kannst du mir helfen?«
Claras blaue Augen funkelten. Mit einem Mal lächelte sie. »Fonso, mein Cousin, hat ungefähr deine Größe. Er ist ein Träumer und lässt ständig irgendwo irgendwas liegen. Da müssten noch ein paar Sachen von ihm sein, die er bei seinem letzten Ferienbesuch vergessen hat. Ich werde mal nachsehen. Bleib so lange hier, mach keinen Lärm und gib dir ein bisschen Mühe, nicht so zu stinken.«
Francisco schaute Clara nach, die im Haus verschwand. Das Herz klopfte ihm in der Brust. Mehr als zwei Jahre lang hatte er sie nicht gesehen, jedenfalls nicht mit seinen tatsächlichen Augen – in seiner Erinnerung und seinen Träumen war ihm ihr Bild immer lebendig geblieben. Es war so schön, ihr wieder ganz nahe zu sein! Doch seine Freude hatte einen Makel: Er war nur zu ihr gekommen, um ihr Lebewohl zu sagen. Bei ihr zu bleiben erschien ihm unmöglich. Das Kloster würde Anspruch auf seinen berühmten Novizen erheben. Und da gab es diese ungeklärten Fragen, die mit seinen
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