Die unsichtbare Pyramide
seltsamen, gerade erst auf höchst unangenehme Weise wieder ins Bewusstsein gerufenen Gaben zusammenhingen. Vielleicht war es kein Abschied für immer, aber wer konnte schon wissen, an welche Orte Vicente ihn führen und wie viel Zeit darüber ins Land gehen würde? Am liebsten hätte er seinen Plan fahren lassen, nur, um bei Clara bleiben zu können. »Aber wozu?«, flüsterte er. »Sie ist deine Blutsverwandte. Eine Verbindung zwischen uns würde nicht nur Gott erzürnen, sondern auch den Staatsanwalt gegen uns aufbringen. Es hilft alles nichts: Du musst fort von hier.«
Mit dieser unbequemen Einsicht harrte er der Rückkehr seiner Schönen. Bald erschien sie mit einer ausgewaschenen Jeans, einem Paar schwarzer Stoffturnschuhe und einem blau-weiß karierten Hemd. Außerdem hielt sie den Henkel eines Zinkeimers in der Hand.
»Da ist Wasser und ein Schwamm. Seife und ein Handtuch findest du hier bei den Sachen. Ich würde dir raten, dich erst zu waschen, bevor du in Fonsos Sachen schlüpfst.«
»Ist gut«, antwortete Francisco und zögerte.
»Was ist?«
»Um mich zu waschen, müsste ich meine Kutte ausziehen.«
»Oh!« Clara zog den Kopf zwischen die Schultern und griente. »Ich setze mich hier in den Korbsessel. Dann kannst du mir in der Zwischenzeit erzählen, was mit dir passiert ist.«
Francisco schluckte. Er drehte das Sitzmöbel so, dass Clara darin Platz nehmen, ihn aber nicht sehen konnte; als provisorischer Paravent diente die hohe, runde Lehne. Das musste genügen. Das Mädchen war mit den Schwestern des Dritten Ordens verbunden und würde wohl wissen, was sich gehörte.
Er zog sich bis auf die Unterhose aus und wusch sich den Schleim von der Haut. Dabei raffte er in wenigen Sätzen die Zeit zusammen, die seit ihrem letzten Treffen vergangen war und berichtete anschließend von den Ereignissen der Woche. Als Vicentes Name fiel, fuhr Claras Kopf herum.
Innerhalb von Sekundenbruchteilen nahm der Novize – weil sich der Schwamm nur ungenügend für eine hinreichende Bedeckung intimer Körperzonen eignete – die Pose eines Flamingos ein: Er stand auf einem Bein, das andere seltsam angewinkelt.
»Dein Bruder heißt Vicente?«, fragte Clara mit bebender Stimme.
»Ja, genauso wie dein Vater.«
»Ich habe dir seinen Namen nie verraten.«
»Stimmt. Weil du ihn verachtest. Und weil er deine Mutter verlassen hat, noch bevor du geboren wurdest. Aber Bruder Pedro hat mir verraten, wer dein Vater ist. Könntest du dich jetzt bitte wieder umwenden?«
Ihre Augen blinzelten hinter der Lehne. Erst jetzt wurde ihr wohl die verfängliche Situation bewusst und sie drehte sich abrupt um. Mit zitternder Stimme fragte sie: »Was hat das zu bedeuten, Francisco?«
»Um es kurz zu machen: Ich bin dein Onkel, Clara.«
Francisco sah, wie sich ihre Hände um die Armlehne des Sessels klammerten. »Das kann nicht sein.«
»Ich fürchte, es ist trotzdem so.«
»Aber…!« Sie schüttelte den Kopf. Francisco hörte ein Schluchzen. Hastig zog er sich Fonsos Hose an, schlüpfte in die Turnschuhe und streifte sich das Hemd über. Doch ehe er es zugeknöpft hatte, stemmte Clara sich aus dem Sessel hoch und sagte, ohne ihn dabei anzusehen: »Meine Mutter kann jeden Moment aufwachen; ich muss jetzt ins Haus zurück. Würdest du bitte gehen?«
»Aber Clara…!«
»Geh bitte, Francisco! Und richte meinem Vater aus, er hat uns schon genug Schmerzen zugefügt. Er soll ein für alle Mal aus unserem Leben verschwinden!«
Francisco lief mit hängendem Kopf zum Hauseingang, durch den Flur und auf die Straße hinaus. Als er sich dort umdrehte, schloss Clara schon die Tür.
»Warte!«, bat er.
Ihr Gesicht erschien im Spalt. Es sah aus wie eine Maske von Trauer, Enttäuschung und Schmerz. Tränen hatten zwei feuchte Spuren auf ihren Wangen hinterlassen.
»Hast du ein Bild von deinem Großvater?«
»Was?«
»Von Vicentes Vater.«
Als Antwort krachte die Tür ins Schloss.
Die Reise nach Madrid erschien Francisco im Nachhinein wie eine Fahrt durch einen langen Tunnel. Er konnte sich an nichts erinnern, das außerhalb des Zuges war. Claras von Enttäuschung gezeichnetes Gesicht schien die ganze Reise hindurch vor ihm zu schweben und ihn vorwurfsvoll anzublicken. »Wie kannst du nur der Bruder dieses gewissenlosen Mannes sein?«, schien es zu fragen. Und: »Wie konntest du in meinem Herzen diese Hoffnung wecken, die nur in Blutschande enden kann?«
Bis der Zug in der Estacion de Atocha, dem Madrider Südbahnhof, einlief, hatte
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