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Die unsichtbare Pyramide

Titel: Die unsichtbare Pyramide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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beobachtete Trevir das Gemäuer jetzt schon einen halben Tag lang. Er hatte zwei Wachwechsel gesehen. Einmal waren acht oder zehn schwarze Reiter über die Zugbrücke geprescht, welche erst im letzten Moment herunterrasselte und hinter den geharnischten Männern wie ein riesiges Maul fast ebenso schnell wieder zuklappte. Ansonsten ließen sich auffallend wenige Krieger blicken. Ob Molog zu Hause war?
    »Wir werden es feststellen, nicht wahr, Trevir?« Sein Hang zu Selbstgesprächen hatte sich in den dreieinhalb Jahren der Wanderschaft zu einer chronischen Marotte entwickelt. »Bald wird es dunkel. Dann komme ich, Eure Majestät, König der Kriegslords.« Vorsichtig zog Trevir sich ein Stück in den Wald zurück.
    Am Morgen hatte er einen Fasan gefangen, dessen Reste er jetzt verspeiste, um sich – wofür auch immer – zu stärken. Die Jagd war ein Teil seines unsteten Lebens geworden. Ihm fiel es nicht schwer, das Versteck eines Tieres zu finden, und mittlerweile wusste er auch, wie man es erlegte und zubereitete.
    Nachdem er Sceilg Danaan verlassen hatte, war er zunächst einige Monate durch Eire gestreift. Auf der grünen Insel, die häufig von kurzen, aber heftigen Regenschauern heimgesucht wurde, lebte er von der Hand in den Mund. Er half hier bei der Ernte, dort beim Gerben von Fellen, dann wieder beim Flicken von Fischernetzen. Meist blieb er nicht lang.
    Wenn die Leute ihn nach dem Grund für seine Unrast fragten, gab er sich als Pilger aus, was er nicht einmal als Lüge empfand. Der »heilige Ort«, den er suchte, mochte zwar auf keiner Landkarte zu finden sein, aber die Gerechtigkeit war allemal ein lohnendes Ziel. Der Weg dorthin erwies sich für Trevir als genauso verschlungen und unbestimmt wie Mologs Spuren, denen er nachspürte. Der mächtigste der Kriegslords war wie ein Phantom: Niemand wollte auch nur die geringste Ahnung haben, woher er kam und wohin er ging. Molog schlage zu wie das Schicksal, lautete ein geflügeltes Wort: Man wisse nicht, wann, man wisse nicht, wo, man könne nur hoffen, von ihm verschont zu werden.
    Fast ebenso gefürchtet wie er war sein Waffenmeister, Cord von Lizard. Diesem wurde nachgesagt, er habe mit seiner Listigkeit mehr Städte eingenommen als Molog mit Feuer. Gleichwohl verstehe die rechte Hand des Kriegslords mit Schwert und Speer umzugehen wie kaum ein anderer. Und dann war da noch von einem Dritten die Rede, der an Molog wie ein Schatten klebte, ein scheinbar namenloser junger Recke, dessen Pfeile nie ihr Ziel verfehlten. Schon der Gedanke, dem Herrn des Schwarzen Heeres und seinen als unbezwingbar geltenden Beschützern einen Besuch abzustatten, galt als so aberwitzig, dass Trevir für seine Frage nach Zennor Quoit schon zweimal wie ein Aussätziger aus einem Dorf gejagt worden war.
    Ein knappes Jahr hatte der Junge in Gesellschaft eines zerzausten Gesellen namens Clutarigas verbracht. Der Alte verkaufte sich als Bader, war jedoch ein Überlebenskünstler mit vielerlei Begabungen. Er zog den Leuten Zähne, amputierte Finger, verordnete Tinkturen gegen Haarausfall, Krätze, Warzen und Blähungen, schrieb Briefe, gab gute Ratschläge – recht häufig auch ungefragt – oder er unterhielt seine Klientel mit Zauberkunststücken. Nachdem er Trevirs erstaunliche Fähigkeit, Verlorenes wiederzufinden, bemerkt hatte, witterte er ein großes Geschäft. Fortan durfte das Publikum Gegenstände verstecken und der Junge musste sie dann wiederfinden. Eher spielerisch lernte Trevir dabei, seine Gaben geschickter zu gebrauchen. Im letzten Frühling hatte er Clutarigas verlassen, sich klammheimlich davongestohlen, weil sein Partner den »Goldesel« Trevir nie hätte freiwillig ziehen lassen.
    Der allmählich zum Mann heranreifende Hüter des Gleichgewichts und letzte Überlebende der Bruderschaft vom Dreierbund war bald darauf erneut in ein Boot gestiegen. Diesmal überquerte er die See von Eire und gelangte so nach Valisia, dem Land seiner Wurzeln – zumindest hier auf Trimundus. Der im Angesicht des toten Aluuin gefasste Vorsatz war nicht vergessen: Trevir wollte Zennor Quoit finden und von Molog Rechenschaft für das Massaker auf der Insel der Stürme fordern.
    Jetzt stand der junge Pilger vor seinem Ziel.
    Er hatte sich dazu entschlossen, die »Eroberung« der Burg kurz vor dem nächsten Wachwechsel von der Seeseite aus in Angriff zu nehmen. Die Posten dort mochten nach feindlichen Schiffen Ausschau halten, aber sie würden wohl kaum, noch dazu in der Abenddämmerung, damit

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