Die unsterbliche Braut
nutzlos fühlte, war ich wenigstens beruhigt, zu wissen, dass ich niemandem zur Last fiel. Ich las, erkundete den Palast und hielt mein Versprechen gegenüber Henry. Außerdem verbrachte ich unzählige Stunden damit, darum zu kämpfen, meine Fähigkeit unter Kontrolle zu bekommen. Zweimal bekam ich kurze Visionen hin, doch nie vom richtigen Ort. Als ich Kronos’ Höhle einen Besuch abstatten wollte, landete ich an Persephones Häuschen, wo Adonis die Blumen pflegte, während er auf ihre Rückkehr wartete. Und als ich herausfinden wollte, was in der Ratssitzung vor sich ging, sah ich wieder den Raum mit dem riesigen Fenster, wo Henry Persephone geküsst hatte. Oder wo Persephone Henry geküsst hatte. Egal.
Von diesen enttäuschenden Ergebnissen abgesehen hatte ich keinen Erfolg. Was auch immer ich falsch machte, ich kam nicht dahinter, und obwohl meine Mutter darauf beharrte, dass ich es irgendwann lernen würde, fühlte ich mich wie eine Versagerin.
Kein Wunder, dass die anderen mich nicht mitkämpfen lassen wollten. Ich an ihrer Stelle hätte meine Hilfe auch abgelehnt.
Je näher die Wintersonnenwende rückte, desto besorgter wurde ich. Auch wenn niemand es laut sagte: An all diesen Vorbereitungen war ich schuld. Ich hatte Henry in eine Situation gebracht, in der er das Tor hatte öffnen müssen. Wenn ihnen irgendetwas zustieß, ginge das auf meine Kappe, und mit dieser Schuld könnte ich nicht leben.
Ingrid war das einzige andere Thema, über das Henry und ich uns stritten. Er wollte nicht, dass ich auch nur in die Nähe von Kronos’ Gefängnis kam, und ich bestand darauf, mein Versprechen zu halten, sie zu besuchen. Schließlich schlossen wir einen Kompromiss. Eine Woche vor der Wintersonnenwende brachte Henry Ingrid für einen Nachmittag in den Palast.
Während die anderen mitten in ihren Vorbereitungen steckten, spazierten Ingrid und ich durch die Juwelengärten. Sie erstrecktensich bis ans Ufer eines schwarzen Flusses, der aus der einen Felswand der gigantischen Kaverne hervorströmte und in der gegenüberliegenden wieder verschwand. Der Styx.
„Ich war so dicht dran, für immer hier zu leben“, sagte Ingrid und seufzte, als wir es uns unter einem goldenen Baum bequem machten. Von den Ästen hingen apfelgroße Rubine herab. „Du hast echt Glück.“
„Glück würde ich das nicht nennen“, widersprach ich und grub die Zehen in den schwarzen Sand. „Eher Vetternwirtschaft.“
Sie lachte, und als sie sich an den Stamm des goldenen Baums lehnte, pflückte ich einen der Rubine ab und roch daran. Nichts. Wenn Henry diese wunderschönen Juwelen erschaffen konnte, warum verlieh er ihnen nicht wenigstens die Illusion eines Dufts? Die Blumen, die er in der Unterwelt für mich hinterlassen hatte, bewahrte ich in einer Kristallschale in meinem Kleiderschrank auf, und selbst nach so langer Zeit rochen sie immer noch nach Zuckerwatte. Andererseits waren sie auch echt. Irgendwie zumindest.
Ich zögerte. „Was hättest du getan, wenn Henry dich nie so sehr geliebt hätte, wie du es dir von ihm gewünscht hättest?“
„Wir können uns nicht aussuchen, wie sehr uns jemand anders liebt“, erklärte Ingrid, während sie einen Zeh in den Fluss tauchte und schauderte. „Er hat mich für die Prüfungen ausgewählt, weil er daran geglaubt hat, dass er mich mit der Zeit lieben lernen würde. Dich hätte er nicht auserwählt, wenn er nicht dasselbe gedacht hätte.“
„So fühlt es sich aber nicht an“, murmelte ich in mich hinein, und als Ingrid nachhakte, erzählte ich ihr alles, was seit unserer Rückkehr aus Kronos’ Höhle geschehen war. Von unserem Streit, was er zu mir gesagt hatte, dass er mich aufgefordert hatte, ich solle gehen – und es sich dann anders überlegt hatte, als er erfuhr, dass James und ich gar nichts miteinander gehabt hatten. Wie wir seitdem freundlich miteinander umgingen, aber nicht so intim wie Mann und Frau. Wie groß meine Angst davorwar, dass wir niemals an diesen Punkt gelangen würden.
Als ich fertig war, hatte Ingrid den Arm um mich gelegt, und ich starrte auf den Edelstein in meiner Hand, als wäre darin die Antwort auf jede Frage verborgen, die ich mir je gestellt hatte. „Ich habe Henry kennengelernt, als ich sieben war“, erzählte sie und spielte gedankenverloren mit einer Strähne meines Haars. „Es war das frühe zwanzigste Jahrhundert, und meine Eltern waren deutsche Einwanderer. Wir hatten sonst keine Familie in Amerika, also habe ich nach ihrem Tod in einem
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