Die unsterbliche Braut
Waisenhaus in New York gelebt.“
„Ich bin auch in New York aufgewachsen“, sagte ich leise, und Ingrid lächelte.
„Ich glaube, Henry hat eine Schwäche für New Yorker“, behauptete sie. „Und für Mädchen, die keine Familie haben. Ich glaube, er denkt, es wäre leichter für uns, ihn zu lieben, wenn wir sowieso schon einsam sind.“
Ich schüttelte den Kopf. Natürlich hatte sie recht, aber das machte den Gedanken nicht erträglicher, wie sehr Henry sich hassen musste. „Ich hätte eine riesige Familie haben können und hätte ihn trotzdem ganz genauso geliebt.“
„Versuch mal, ihm das klarzumachen“, erwiderte Ingrid trocken. „Er ist schon immer so gewesen, weißt du. Überzeugt, dass er es nicht wert ist, geliebt zu werden, obwohl ich mit ihm aufgewachsen bin. Wir sind immer zusammen spazieren gegangen. Damals hatte er noch nicht diese Gestalt – ich meine, er hat ausgesehen wie ein Junge in meinem Alter, und für lange Zeit habe ich geglaubt, dass er das auch wäre. Er war mein bester Freund. Gemeinsam sind wir durch die Straßen gezogen und haben über Gott und die Welt geredet – haben Äpfel von den Straßenhändlern geklaut und uns ständig in Schwierigkeiten gebracht.“ Kleine Lachfältchen erschienen um ihre Augen herum. „Er hat mein trauriges kleines Dasein lebenswert gemacht. An dem Tag, als ich das Waisenhaus verlassen habe, hat er mir gesagt, wer er wirklich ist, und mich zu seinem Haus im Wald mitgenommen. Es war traumhaft. Warst du auch da?“
Ich nickte. „Eden Manor.“
„Es war mein erstes richtiges Zuhause, seit meine Eltern gestorben waren.“ Ingrid nahm meine Hand und verschränkte ihre schlanken Finger mit meinen. Ihre Glieder fühlten sich ganz zart an, so als könnte ich sie zerbrechen, wenn ich zu fest zudrückte. „Er hat mir von Persephone erzählt. Und er hat mir gesagt, sie sei zwar seine Vergangenheit, aber ich wäre seine Zukunft.“ Sie schüttelte den Kopf. „So ein albernes kleines Detail, aber ich erinnere mich daran. Und jedes Mal, wenn er mich besuchen kommt, muss ich daran denken. Dass er es nicht nur gesagt hat, weil er dachte, ich müsse es hören. Er hat uns alle auf ganz eigene Weise geliebt, Kate. Mich, die anderen, die gestorben sind, dich – aber sieh dir an, wie viele von uns er verloren hat. Sieh dir an, was er mit Persephone durchgemacht hat. Er glaubt, er wäre für all das verantwortlich, weißt du, und diese Schuldgefühle werden nicht über Nacht verschwinden. Kannst du ihm einen Vorwurf daraus machen, dass er zurückhaltend ist?“
Ich schluckte. Nein, das konnte ich nicht. Und ich hatte keine Ahnung gehabt, dass er die anderen Mädchen so geliebt hatte, wie er behauptete, mich zu lieben. So viele Verluste … Genau das, was ich mit meiner Mutter durchgemacht hatte, nur zwölfmal hintereinander, doch Henry konnte nicht dem Krebs die Schuld geben. „Du hättest durchhalten sollen“, warf ich leise ein. „Ihr beide hättet wirklich glücklich miteinander werden können.“
„Wahrscheinlich.“ Ingrids Lächeln verblasste, als sie auf das träge fließende Wasser blickte. „Aber ich habe mich anders entschieden, und jetzt gibt es kein Zurück mehr. Ich wünsche mir, dass er glücklich ist, Kate.“
„Ich auch“, murmelte ich. „Ich versuch’s. Ich geb mir wirklich Mühe, aber es fühlt sich so an, als würde er mich nicht wollen.“
„Er leidet. Henry war noch nie besonders gut darin, seine Gefühle auszudrücken, und man muss Geduld mit ihm haben. Nicht dass ich glaube, du hättest keine Geduld“, fügte sie schnell hinzu. „Nur dass es bei ihm etwas mehr davon braucht als normalerweise.“
„Ich bleibe“, sagte ich. „Fürs Erste zumindest. Aber ich weiß nicht, was ich noch machen soll. Ich habe keine Ahnung, wie ich das in Ordnung bringen soll.“
„Was, wenn es gar nicht in Ordnung gebracht werden muss?“ Ingrid wandte sich mir zu und sah mich aus ihren grünen Augen aufmerksam an. „Was, wenn es unter der Oberfläche schon perfekt ist und die Oberfläche das Einzige ist, was euch in die Quere kommt?“
Ich blinzelte. „Das verstehe ich nicht.“
„Du glaubst, das Problem wäre, dass Henry dich nicht liebt“, erklärte Ingrid, und ich zuckte mit den Schultern. „Aber ich sage dir – alle haben dir gesagt, dass er es tut. Du hast also zwei Möglichkeiten: Entweder, du akzeptierst, dass du falschliegst, und lässt Henry dich auf seine Weise lieben, oder du zwingst euch beide ins Unglück, bis du
Weitere Kostenlose Bücher