Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
wusste ich, dass es nicht einfach werden würde. Aber die nächsten vier Monate werden schlimm werden. Ich kann nicht gerade sagen, dass ich mich darauf freue. Die Leute schauen mich bereits seltsam an.«
»Wir sind hier in New York. Die Leute schauen einen seltsam an, bloß weil man atmet.«
»Das ist ja das Problem. Ich spüre ihre Blicke auf meinem Bauch. Ich höre, was sie denken: ‚Mein Gott, noch ein Mund, der gestopft werden will.‘ Hast du schon gehört, dass vor einer Woche in Queens schon wieder eine schwangere Frau getötet wurde? Eine riesige Horde Mistkerle hat sie einfach überrannt.«
Ich klopfte ihr auf den Oberschenkel. Sie sah mich dankbar an. Schon seit langer Zeit waren alle Zeichen der Zuneigung, die Sonia und ich austauschten, nur noch rein freundschaftlich. »Es wird alles gut gehen.«
»Das kannst du doch nicht wissen«, sagte sie.
»Es ist wichtig, dass du Menschen um dich hast, die dir ein Gefühl der Sicherheit geben, auch wenn du dich nicht in ein riesiges abgesichertes Kraftfeld oder so zurückziehen kannst.«
»Aber ich brauche ein solches Kraftfeld. Ich werde die Wohnung eine ganze Zeitlang nicht verlassen können. Vielleicht bringe ich das Kind sogar hier zur Welt. Ich werde einfach meinen WEPS ausbauen und eine Bergkette an die Wand projizieren, dann bekomme ich keinen Lagerkoller.«
»Was sagt David dazu?«
»Er ist fürsorglich, genau wie du. Er will natürlich, dass das Baby in der Kirche der Menschheit getauft wird.«
»Bist du damit einverstanden?«
»Oh, natürlich. Nate und ich waren ein paarmal mit ihm in der Kirche. Es ist nicht so übel. Es ist alles ganz normal. Ich weiß, dass die Sekten die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, aber die Kirche selbst ist relativ harmlos. Die Taufe ist keine große Sache. Es gibt eine Torte. Eine Torte ist gut.«
Ich ging in die Küche und holte ihr ein Glas Wasser und ein paar getrocknete Aprikosen. Ich hörte, wie das Türschloss von außen aufgeschlossen wurde. Ich umklammerte Sonias Wasserglas, um nichts zu verschütten, wenn ich David sah. Die Tür ging auf, und die drei kamen herein. Da war er. Genau da. Vor mir. Ich starrte ihn an. Ich konnte nicht anders.
»Mein Gott«, sagte ich. »Du siehst aus wie ich.«
Die Feststellung schien ihm unangenehm zu sein. Ich hatte beinahe sein ganzes Leben über den Bildschirm verfolgt. In der Werbung sagen sie immer, dass man sein Haus dank des WEPS nie mehr verlassen muss. Aber nichts kann die Wirklichkeit ersetzen. Er stand vor mir, und ich sah ihn doppelt. Er war der Mann, der vor mir stand, und das schreiende Kleinkind, dem ich vor Jahrzehnten dabei zugesehen hatte, wie es aus dem Körper seiner Mutter gezogen worden war. Ich fühlte mich klein. Ich beeilte mich, die Stille zu durchbrechen. »Wollt ihr vielleicht ein Wasser?«
»Klar«, antwortete David. Bloß dieses eine Wort von ihm zu hören, fühlte sich surreal an. Ich wollte es auffangen und in einem Gefäß einschließen.
Ich lief zurück in die Küche, um die Wassergläser aufzufüllen. Er sah aus wie ich, nur ein wenig größer. Muskulöser. Wie eine verbesserte Ausgabe des Originals. Ich fühlte mich nicht, als wäre ich sein Vater. Ich fühlte mich, als wäre ich bloß sein Schatten. Ich hatte nicht die väterliche Autorität ihm gegenüber, wie sie mein Vater mir gegenüber gehabt hatte. Ein furchtbares Gefühl der Unreife durchflutete mich. Er war mittlerweile neunundzwanzig Jahre alt. Ich war neunundzwanzig Jahre alt. Ich fühlte mich, als wäre ich fünf. Die Einsicht, dass ich ihn achtundzwanzig Jahre lang vernachlässigt hatte, brach über mir zusammen wie ein baufälliges Gebäude. Vor meinem inneren Auge sah ich den Geist eines Kindes, das in seiner eigenen Krippe erstickt war. Die Unwiderruflichkeit lastete schwer auf mir. Es war unabwendbar. Endgültig. Ich wäre am liebsten im Boden versunken.
Ich ging zurück. Nate, Sonia und Ella waren in ein Gespräch vertieft und bemüht, den Anschein von Normalität zu erwecken. Ich mischte mich ab und zu ein, doch alles, was aus meinem Mund drang, fühlte sich falsch an, sobald ich es gesagt hatte. Es war so furchtbar wie bei einer ersten Verabredung. Ich sehnte mich nach Alkohol, und ich verschwendete keine Zeit. Ich riskierte, in Davids Ansehen zu sinken, um die Unbeholfenheit loszuwerden. »David, willst du vielleicht einen Drink?«
Er überlegte einen Moment lang, der sich ewig hinzuziehen schien. Dann willigte er schließlich leise ein, und wir fuhren schweigend
Weitere Kostenlose Bücher