Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
ließ sich von uns an einen nahegelegenen Strand auf Cape Cod fahren. Wir nahmen einen rostigen Pick-Up, der hinten voller Sand war. Es war mittlerweile Ebbe und die Bucht vollkommen trocken. Man konnte von einer Seite auf die andere spazieren, ohne dass die Knöchel nass wurden. Wir gingen mit ihm zu einer Mulde, und dort, wo das Wasser abgeflossen war, sah ich die Oberfläche der Erde. Ich sah die kleinen Furchen im Sand. Es sah aus wie die Oberfläche eines Kraters auf einem weit entfernten, uralten Planeten – ein Krater, der einst ein riesiges Meer gewesen, aber nun für immer tot war. Ich sah die winzigen Einsiedlerkrebse, die hervorkamen und den kleinen Wasserläufen folgten. Es war der einzige Weg, den sie noch gehen konnten.
Es war offensichtlich, dass er das alles schon jahrelang vorgehabt hatte. Er hatte es minutiös geplant. Auf der Ladefläche seines Pick-Up befanden sich ein paar Betonschalsteine, an denen Handschellen befestigt waren. Er erklärte uns, dass wir die Steine an seinem Körper befestigen sollten, und er würde warten, bis das Wasser wiederkam. Er erklärte uns, dass das Wasser zur Abenddämmerung wieder zurück in die Bucht fließen und das riesige Becken füllen würde. Dann würde man sehen, wie das Sonnenlicht auf die Oberfläche trifft und sich der dunkle Sand in ein Meer aus Gold verwandelt. Kleine, plätschernde Wellen würden einen immer weiter zu sich winken, bis man vollständig in ihnen versank. »Ich werde dort sitzen«, erklärte er uns, »und ich werde warten, bis das Wasser immer weiter meinen Körper hinaufkriecht, über meine Knie, meine Hüften, meinen Oberkörper. Ich lasse mich von ihm überwältigen, bis nichts mehr übrig bleibt. Ich werde dort treiben, bis es mich verschlingt, und dann werde ich loslassen und mich von ihm forttragen lassen. Der Tod meiner Frau. Der Tod meiner Eltern. Die zahllosen Toten, unbelastet von einer Zukunft, die sich ihrer Kontrolle entzieht. Das Leben ist wie ein Denkmal, und meines ist vollendet. Ich möchte jetzt fortgehen, bevor alles, von dem ich einst dachte, es sei unauslöschlich, zu Staub zerfällt. Bevor ich nichts mehr in meinem Inneren finde.«
Ernie befestigte die Steine an seinem Körper, und wir blieben bei ihm, während die Flut zurückkam. Man konnte mit bloßem Auge nicht sehen, wie das Wasser stieg, doch jedes Mal, wenn wir uns umdrehten, stand es einige Zentimeter höher. Der alte Mann zuckte nicht zusammen. Kein einziges Mal. Ernie watete zurück an Land, doch ich blieb. Ich stand vollbekleidet im Wasser. Ich sah zu, wie er seinen letzten Sonnenuntergang beobachtete. Ich sah, wie das Wasser sein Kinn erreichte, dann seinen Mund. Und wie es in seine Nasenlöcher rann. Er zuckte nicht, und er zeigte auch keine Anzeichen von Unbehagen. Ich sah zu, wie das Wasser über seine Augen rann, doch sie traten nicht hervor. Er sah aus, als säße er zu Hause in seinem Lieblingssessel.
Ich erzählte meinem Sohn die Geschichte mit einem Anflug von Neid. »Es war irgendwie … romantisch, David. Es war eine Bestätigung. Er spürte etwas in seinem Inneren, das ich nicht spüre, und ich werde nicht von hier fortgehen, bis ich dieses Gefühl ebenfalls finde.«
»Ich weiß, wo du dieses Gefühl nicht finden wirst«, sagte David.
»Da bin ich nicht deiner Meinung.«
»Das wird sich noch ändern. Ich bin bereits auf einem guten Weg, um die Gelassenheit zu finden, die dein Klient für sich entdeckt hat. Ich traue mich zu sagen, dass ich ihr näher bin als du. Möchtest du wetten, wer sie zuerst findet?«
Das wollte ich nicht. Ich weiß vorab, wann ich eine Wette ohnehin nur verlieren würde.
GEÄNDERT AM:
22.06.2059, 20:02 Uhr
»Das Heilmittel für alles andere«
Das ist eine Niederschrift eines Berichts von Micah Resnick über Steven Otto, der von dem Fernsehsender Sky4 gesendet wurde:
Resnick: Steven Otto war erst zwei Jahre alt, als sein Vater Graham und sechs seiner Kollegen von einer Gruppe Pro-Todes-Terroristen vor ihrem Übergangslabor in Eugene, Oregon, ermordet wurden. Seit dieser Nacht sind über vier Jahrzehnte vergangen. Steven Otto hat genügend Fragen über die damaligen Ereignisse gestellt und genügend Antworten erhalten, um sich selbst eine lebhafte, grausame, schmerzhafte Erinnerung daran zurechtzulegen. Er denkt oft an seinen Vater, und er hält die Leute nie davon ab, die Geschichte anzusprechen. Diese Offenheit wird ihm in den nächsten Jahren sicher eine Hilfe sein, denn Steven Otto ist kurz davor, einen
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