Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
Sie war erwachsen, ironisch, intelligent und warmherzig, genau wie ihre Mutter. Sie hatte die gleiche Achtsamkeit, eine Bereitschaft, sich in die Situation eines anderen hineinzuversetzen. Herrgott, hatte er gedacht, prägte Tullas allumfassende Hilfsbereitschaft letztendlich diese ganze Familie? Tulla, die beim ersten Flug der SAS über den Nordpol dabeigewesen war, die die Einweihung der Route nach Bangkok erlebt hatte, die zu den Pionierinnen der Luftfahrt gehörte. Nicht nur ein Holmenkoll-Mädchen, sondern eine Stewardeß der ersten Generation, als Stewardessen ein Gesicht bekamen, als sie auf den Titelseiten von LIFE und TIME prangten. Hatte Tulla Dahl nicht überall auf der Welt Champagner serviert, nicht überall auf der Welt mit der Crew ein Bier getrunken? War sie nicht auf Eisbärsafari oder auf Bootstouren in exotischen Ländern gewesen? Kein Geringerer als Erik Bye hatte eine Sendung über sie gemacht.
Aber trotzdem hatte sie sich die nonchalante Holmenkoll-Bescheidenheit erhalten, die die Frauen an diesem steilen, bewaldeten Hügel auszeichnete. Wo die Männer eingebildet und aufgeschwemmt waren, bewahrten die Frauen eine erstaunliche Würde, wenn es ihnen gelang, auf Davy-Crockett-Mützen und all den anderen Firlefanz zu verzichten. Und das gelang Tulla Dahl trotz der kaum zu übersehenden Aufforderungen ihres Gatten, aus ihr ein für allemal ein Heimchen am Herd zu machen. Erst jetzt wurde sie von Kaare Dahls Bedürfnissen eingefangen, wenn es darum ging, einen Harnkatheter zu legen, den Blutzucker zu messen oder Inhalationsgeräte zu bedienen,die er nicht verstand. Er war völlig damit beschäftigt, nach Drøbak zu schauen.
Und etwas von dieser selbstverständlichen Hilfsbereitschaft mußte Annika von ihrer Großmutter geerbt haben. Sie wußte, daß der Papa unruhig war, und niemand war solidarischer als Annika, dachte Thomas Brenner. Sie war bereit, ihm in allen Situationen des Lebens beizustehen, egal ob er auf der ersten Seite eines Skandalblattes war oder nicht.
»Ich kann dich morgen begleiten, Papa«, sagte sie.
Der Vorschlag rührte ihn, aber gleichzeitig wußte er, daß Bergljot Brenner ihn am liebsten allein haben wollte. Sie liebte die Enkeltöchter, auch wenn sie ihr unverständlich blieben. Sie war eine liebenswürdige alte Dame, die in einem großbürgerlichen Umfeld am Sandefjord aufgewachsen war. Ihren Mann hatte sie in dem Kreis um den Erzkapitalisten und Reeder Anders Jahre kennengelernt, und sie heiratete Gordon Brenner allein mit der Absicht, ihm viele Kinder zu schenken und Fruchtsuppe zum Dessert zu reichen.
Ersteres schaffte sie mit Bravour, wurde aber nie eine gute Hausfrau und Köchin, und das sollte sie prägen. Sie hatte keine spezielle Aufgabe zu erfüllen und unternahm auch keinerlei Anstrengung, das Brenner-Haus zu verlassen, solange es nicht nötig war. Das Haus war zudem groß genug, um für sie ein Leben lang eine Ganztagsbeschäftigung zu sein. »Ich glaube, es ist am besten, wenn ich allein hinfahre«, sagte Thomas Brenner zu seiner Tochter. »Es entsteht sonst zuviel Aufregung. Wir müssen versuchen, das Ganze so akzeptabel wie möglich zu gestalten.«
»Akzeptabel? Ins Pflegeheim verfrachtet zu werden?« Der Tochter standen die Tränen im Gesicht.
»Du verstehst schon, was ich meine«, sagte er müde.
»Nein«, sagte sie mit der eigensinnigen Selbstgerechtigkeitsstimme, die ihn all die Jahre verfolgt hatte. Sie hatte ihn jedesmal geärgert, weil er nie sah, daß das, was sie meinte, einer echten Überzeugung entsprach. Sie saß ja meistens oben im Dahl-Haus und pusselte an ihren Schmuckarbeiten, und auf einmal vertrat sie klare Vorstellungen über die großen Angelegenheiten der Welt. Da gab es keine Grenzen für die Behauptungen und Beschwerden, die über ihre Lippen kamen. Am liebsten stritt sie mit Großvater Kaare, der fast immer anderer Ansicht war als sie. Annika war eine Radikale, lebte aber wie eine Rentnerin, und darauf hinzuweisen, konnte sich Thomas Brenner in der Hitze der Diskussionen manchmal nicht verkneifen.
Damit verletzte er sie zutiefst, lernte aber nie daraus. Annika lief in der Regel hinauf in die Werkstatt bzw. ihr Kinderzimmer, und Elisabeth schickte ihm einen bösen Blick. Nur Kaare Dahl schmatzte vergnügt und sagte: »Das geschieht ihr recht.«
Aber jetzt ging es um Bergljot Brenner, und Thomas erfaßte die Panik bei dem Gedanken, die Tochter würde am morgigen Tag mit von der Partie sein. Annika neigte zum Dramatischen und
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