Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
für Borges oder mitteleuropäische Autoren, jedenfalls nicht für amerikanische, mit Ausnahme von Hemingway, Salinger und Bukowski, und Thomas gelang es nur selten, diesen hochgeistigen Gesprächen zu folgen. Es mußte sein Körper sein, den sie wollte, dachte er. Und den wollte sie dann auch.
Es war fantastisch, mit ihr zusammenzusein. Sobald sie allein waren, wurde sie ganz anders, war nicht mehr das Mädchen am Cafétisch, das mit wilder Begeisterung über Herzog diskutierte. Da schaute sie ihm tief in die Augen. Da zeigte sie sowohl ihre Verletzlichkeit wie ihre Leidenschaft.
Es war bereits damals, an einem Junimorgen in ihrem Zimmer im Dahl-Haus, nachdem sie soviel von sich offenbart hatten, was sie sonst versteckt hielten, daß sie sich versprachen, nie auseinanderzugehen. Es war ein solcher Morgen, wie man ihn nur in der Jugend erleben kann, intensiv und neu, während die Obstbäume blühten. Sie hatten auf der Stereoanlage leise Abbey Road gespielt. Und gerade als Here Comes the Sun von den Beatles aus den Lautsprechern kam, stieg die Sonne über Vettakollen auf und tauchte Stadt und Fjord in ihr Licht. Das empfanden sie beide sehr intensiv. Daran zweifelte er nicht. Sie hatte Bellow vergessen. Sie wollte nur ein Versprechen von ihm. »Verlaß mich nie«, sagte sie.
Seit er ihr das versprochen hatte, war es, als könnte ihr niemand mehr etwas anhaben, sie ging freier auf andere Menschen zu, aber ihre Art, wie sie ihn gefragt hatte, blieb unvergessen. Es war so überraschend für ihn gewesen, daß sie sich an jenem Morgen so entblößt vor ihm gezeigt hatte. So aufrichtig. Die Zärtlichkeit in ihrem Blick würde er nie vergessen.
Sie brauchten keinen Priester. Ihr Zimmer im Dahl-Haus, in dem einige Jahrzehnte später Annika mit ihrem Silberschmuck arbeiten sollte, war wie ein Tempel, nur für zwei Eingeweihte. Er hatte sich so glücklich gefühlt, so privilegiert. Und er wollte keine andere. Elisabeth Dahl war mehr als genug für ein ganzes Leben.
Er wußte, daß sie schrieb. Aber es überraschte ihn, daß sie mitten in ihrem Literaturstudium ein Manuskript an Gyldendal geschickt hatte. Er wohnte noch im Brenner-Haus, als Protuberanzen angenommen wurde. Sie waren nach alter Sitte verlobt, mit Ring und allem, vielleicht wollte Kaare Dahl es so. Sie hatte ihn von der Universität aus angerufen, hatte den Brief den ganzen Vormittag mit sich herumgetragen, aber nicht gewagt, ihn zu öffnen. Sie öffnete ihn während ihres Telefongesprächs.
Sie las ihn laut vor, und die Stimmung stieg und stieg. Der Lektor teilte mit, daß sogar Johan Borgen, damals der für Literatur maßgebende Autor, das Manuskript geprüft hatte. Alle seien begeistert gewesen. Protuberanzen sei die beste Novellensammlung, die sie seit langem gelesen hätten. Er schlug vor, sie sollten im Theatercaféen feiern, er könne es sich leisten. Er würde auch noch ihre Freunde einladen. Aber nein, sie wollte heim ins Dahl-Haus und zusammen mit Thomas und den Eltern feiern.
So geschah es. Die anderen Geschwister waren in alle Winde verstreut, aber Tulla und Kaare waren da, und Tulla wußte genau, wie sie diese Feier in der Bibliothek arrangieren mußte. Champagner und Kaviar. Die alten Gläser vermittelten ein Gefühl von Luxus. Trotzdem war es komisch für Thomas Brenner, bei seinen künftigen Schwiegereltern das Debüt der Tochter als Schriftstellerin zu feiern. Später, als auch Annika die Familie den Freunden vorzog, vermutete er, daß vielleicht eine tiefere Unsicherheit hinter diesen Entscheidungen steckte. Elisabeth brauchte die Familie, auch als erwachsene Frau, als sei sie immer noch ein Kind. Sie brauchte das Dahl-Haus, die alten Traditionen, Weihnachten, die Sommerfeste, während er nur den Wunsch gehabt hatte, sich vom Brenner-Haus zu befreien, sich weit davon zu entfernen, es aber nie geschafft hatte, weil er, und das war das Los der Holmenkoll-Jugend, eine Lebensgefährtin gefunden hatte, die nur einen Steinwurf von ihm entfernt wohnte. Einmal Holmenkollen immer Holmenkollen.
Er blieb auf diesen Wegen, diesen Trampelpfaden, bekam sogar eine Arztpraxis in unmittelbarer Nähe, und schon damals war das ganz in Elisabeths Sinn gewesen, obwohl sie später das Bedürfnis nach weiten Reisen hatte und teilweise auch mit dem Gewohnten und Vertrauten brach.
Er durfte Protuberanzen erst lesen, als das Buch gedruckt und erschienen war, mit dem eleganten Umschlag von Gunnar S. Gundersen. Er erfuhr, daß Protuberanz die Bezeichnung für
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