Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
den Ausbruch von rot leuchtendem Gas auf der Oberfläche der Sonne war, daß man die Erscheinung als dunkle Streifen unterschiedlicher Form sehen konnte, als Projektion auf die Sonnenscheibe. Was er nicht wußte, bevor er das Buch seiner Verlobten las, war, daß dieses rot leuchtende Gas eigentlich kalt war. Und das war auch der geheimnisvolle Hintergrund von Elisabeths Text: Woher kam die Kälte? Warum wurde das Gas nicht von der Atmosphäre erwärmt, von der Korona? Welche Kräfte wirkten der Schwerkraft derart entgegen, daß das Gas nicht abfiel? Einige Protuberanzen konnten mehrere Wochen existieren, bevor sie plötzlich explodierten und einen Strom energiegeladener Partikel ins Sonnensystem schickten.
Es dauerte lange, bis Thomas begriff, daß alle Erzählungen in Protuberanzen eigentlich Selbstporträts waren. Sie begannen eher zurückhaltend, harmlos. Aber dann explodierten sie plötzlich wie in der Geschichte von der alten Frau, die all die Jahre ein stilles, zurückgezogenes Leben in einem Mietshaus in Frogner gelebt hatte und plötzlich einen irren Wutanfall bekam, weil einer der Nachbarn die Müllsäcke unten an der Eingangstür abstellte, statt sie in den Hinterhof zu tragen. Oder die Geschichte von dem Mädchen, das, allein in der Wohnung, seinen ersten Orgasmus bekam, um danach in einer Mischung aus Schaffensdrang und Destruktion das gesamte Mobiliar zu demolieren, schockiert und fasziniert von dieser neuen Dimension in ihrem Leben.
Das war faszinierend. Elisabeth gelang der Spannungsbogen von den innersten Gedanken und Gefühlen bis zu dem, was wir konkret sagen und tun. Sie schilderte die Menschen interessanter, widersprüchlicher. Und sie benutzte eine Sprache, die sich, wie er später erkennen sollte, eng an Saul Bellow anlehnte. Die verschnörkelten und doch präzisen Sätze. Die Zivilisationskritik, die sich aus dem formalen Aufbau und der Charakterisierung der Personen ergab. Er hatte das Buch geliebt, und es war ihm unerklärlich, warum sie aufhörte zu schreiben.
Einige Male hatte er versucht, aus ihr herauszulocken, ob es mit der negativen Rezension im Morgenbladet zu tun hatte. Ein junger, arroganter Kritiker hatte gemeint, daß es schlimm aussehen würde in den norwegischen Haushalten, wenn sich jeder bei einem »Höhepunkt« so benehmen würde wie die Figur in Elisabeth Dahls Novelle – er schrieb das Wort in Anführungszeichen, weil er vermutlich nicht wußte, was es bedeutete, wie Thomas Brenner tröstend gesagt hatte. Sie hatte ihm nicht geantwortet,wurde nur für einige Monate Holmenkoll-distanziert und trank etwas mehr als sonst. Dann setzte sie ihr Studium fort. Dann heirateten sie. Dann kam Rußland.
Und jetzt saßen sie in der Straßenbahn mit Tochter Annika, unterwegs zum Mother India, um zu essen und sich danach Lines Aufführung im Tanzinstitut anzusehen. Je unseriöser diese Institute waren, desto spektakulärer lauteten ihre Namen, dachte Thomas Brenner. Das sogenannte Institut war ja nur eine zusammengewürfelte Truppe aus arbeitslosen Tänzern und Choreographen, die Geld verdienen wollten. Das war ihm bereits klargeworden, als er ihre Homepage im Internet gesehen hatte. Das Tanzinstitut hatte keine Geschichte, keine dezidierte Zielsetzung. Thomas Brenner verstand schließlich Latein. »Institutum: Einrichtung, in der eine Form der Forschung oder auch Ausbildung betrieben wird.« Die Forschung konnte man vergessen, und die Ausbildung war ebenfalls äußerst zweifelhaft. Aus diesem Tanzinstitut war in den letzten Jahren kein einziger Schüler hervorgegangen, der sich profiliert hätte, sei es im Nationalballett, in einem der Musiktheater oder im Fernsehen. Das Institut wirkte eher wie ein Sammelplatz für die verwöhnte reiche Jugend der Hauptstadt, frühzeitig traumatisiert vom Ehrgeiz der Eltern, von deren Traum, daß die Tochter oder der Sohn in Die Reise zum Weihnachtsstern oder Der Nußknacker mitwirken soll.
Aber daran wollte er jetzt nicht denken, noch nicht. Ihm schwante, daß ihm dieser Abend ohnehin genügend Kummer bringen würde, denn Line gehörte, ebenso wie Annika, nicht zu den Begabtesten. Nun denn. Er liebte sie und spürte jetzt Annikas Hand, sie lehnte sich herüber zu ihm, hatte sicher gehört, was mit Großmutter morgen passieren sollte, wußte, daß ihm davor graute.
»War dein Tag gut, Papa?«
Elisabeth hatte zum Glück in der Vater/Papa-Frage gewonnen. Ihm gefiel es, Papa genannt zu werden. Annika besaß außerdem sehr viel Mitgefühl.
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