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Die Unsterblichen: Roman (German Edition)

Die Unsterblichen: Roman (German Edition)

Titel: Die Unsterblichen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
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»Ja, schon«, sagte Elisabeth sofort, »aber ist es nicht vielleicht etwas zu teuer?« Annika nickte.
    »Ich müßte sehr viel Schmuck verkaufen, um es mir leisten zu können«, sagte sie. Aber eigentlich kauften doch er und Elisabeth alle ihre Kleider, warum sagte sie so etwas? Solche typischen Annika-Repliken konnten Elisabeth aufregen, ihn machten sie nur verzweifelt. Wieviel wog sie? Hundert Kilo? Hundertzwanzig? Was war das bloß für ein feinmaschiges Lügennetz, in das sie alle zusammen verstrickt waren, dachte er, während sich die Damen vom Schaufenster losrissen und den Hedgehaugveien hinunterschlenderten.
    Bald waren sie im Parkveien, nur um an der kleinen Wohnung vorbeigehen zu können, in der Line wohnte. Zum Glück hatten sie den kleinen Imbiß rechts davon unbemerkt passiert. Früher, wenn sie ins Mother India essen gingen, mußte sich Annika dort jedesmal zwei Wiener mit Brot holen unter dem Vorwand, daß sie den ganzen Tag gearbeitet hatte und hungrig war und daß es in solchen indischen Restaurants oft lange dauerte, bis das Essen kam, obwohl das Gegenteil der Fall war. Meistens bekleckerte sich Annika dabei noch mit Ketchup oder Senf.
    Aber zum Glück blieb ihnen diesmal erspart, der Tochter dabei zuzusehen, wie sie hastig zwei Würstchen mit Brot verschlang. Annika deutete auf die Fenster der schwesterlichen Wohnung. »Wie lange hat sie mich schon nichtmehr eingeladen«, sagte sie mit künstlicher Klagestimme. Sie wußte genausogut wie Elisabeth und Thomas, daß Line fast nie zu Hause war, daß sie sozial gesehen das Gegenteil ihrer Schwester war und in den Kreisen, in denen sie verkehrte, offenbar allseits beliebt und gefragt war.
    Annika wußte vermutlich nicht, daß Elisabeth und Thomas nach wie vor die Miete für die Schwester bezahlten und außerdem einige tausend Kronen im Monat, damit sie ihr urbanes Leben, das ihr so wichtig war, führen konnte. Sie hatten versucht, all die Unterstützung, die sie den Töchtern zukommen ließen, unerwähnt zu lassen, auch vor den Töchtern. Sie wollten die beiden nicht beschämen. Jeden Fünfzehnten eines Monats gingen einige tausend Kronen auf die jeweiligen Konten, Geld, worüber nicht gesprochen wurde, Geld, das schmerzte, das sie aber bezahlen konnten, weil im Dahl-Haus keine Miete fällig war, nur einige günstige Zinsen und minimale Abzüge für die großen Kredite. Und weil die kassenärztliche Vereinigung die finanzielle Situation von Thomas verbessert hatte, war dieses hohe Ausgabenniveau möglich, obwohl Elisabeth nur noch sporadische Einnahmen von Burlington Ltd. hatte, die sie meist für außergewöhnliche Ausgaben verwendete oder, wie jetzt, für einen Restaurantbesuch, denn im Mother India zahlte immer Elisabeth. Vielleicht ein Überbleibsel aus ihrer Rußland-Zeit, als sie noch die Kreditkarte von Telenor benutzen konnte.
     
    Weil sie wußten, daß Line bereits im Tanzinstitut war und sich vorbereitete, passierten sie den Wohnblock und bogen ab in die Pilestredet zum Mother India, das auf sie wartete, klein, warm und einladend. Weil sie Stammgäste waren, bekamen sie immer einen der besten Tische. Der Kellner kam von selbst mit dem Rotwein, den die Brenner-Dahl-Familie immer bestellte. Thomas Brenner fühlte sich matt. Annika sah es: »Bist du müde, Papa?«
    Sie streichelte leicht seine Wange. Er nickte. »Es sind lange Tage.«
    Aber er durfte Annika nicht ängstigen. Seit sie klein war, hatte sie mehr als üblich Angst, ihre Eltern zu verlieren. Sie schlief im Doppelbett zwischen ihnen, bis sie zwölf Jahre war. Line hatte auch versucht, einige Jahre bei ihnen zu schlafen, was aber für alle Beteiligten unbequem wurde, besonders für Line als Kleinster. Oft wurde sie im Schlaf aus dem Bett gestoßen.
    Sie hatte geweint und sich ungerecht behandelt gefühlt, aber dann hatten sie ihr Kinderzimmer schön hergerichtet, und sie schlief dort, während Annika im Schlafzimmer der Eltern blieb. Das trug dazu bei, daß sich die Geschwister voneinander entfernten.
    Annika hatte ein ständiges Bedürfnis nach elterlicher Aufmerksamkeit, bei Line aber staute es sich auf. Über lange Zeiträume konnte sie über nichts reden, um dann plötzlich einen Wutausbruch zu bekommen und die Eltern zu beschuldigen, sie nicht zu beachten und Annika zu bevorzugen. Daraufhin wurde auch Annika wütend, und Elisabeth und Thomas mußten zwischen den Schwestern Frieden stiften.
    Elisabeth hatte einen guten Draht zu Line, Thomas konnte besser mit Annika. Beide Mädchen

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