Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
hatten im Alter von 18 Jahren eine Periode voll existentieller Angst. Besonders Annika fürchtete sich davor, allein gelassen zu werden, und saß manchmal tränenüberströmt im Bett, voller Angst, Elisabeth und Thomas könnten sterben. In ihrer Schwester fand sie keine Stütze, sie dachte nur daran, wie schrecklich es sein würde, ein Leben ohne ihre Eltern zu leben. Thomas erkannte sich darin wieder. Erhatte dieses Gefühl auch gehabt. Allein auf der Welt. Er verspürte immer noch eine Art Panik bei dem Gedanken, daß er und Elisabeth erkranken und die Mädchen allein lassen könnten. Für Annika wäre das fatal, selbst jetzt mit 26 Jahren. Solange sie nicht in der Lage war, das Nest zu verlassen, erschien sie ebenso unselbständig wie mit acht Jahren. Die Familie ist eine Zeitbombe, dachte er und lächelte beiden zu, dachte an den Knoten, beschloß, bei nächster Gelegenheit mit Elisabeth zu sprechen, koste es, was es wolle.
»Dieser Herbst ist besonders aufreibend«, sagte Annika. Er wußte, daß sie an die Schweinegrippe dachte und den Impfstoff, der angefordert war. Die Leute hatten Angst. In Ärztekreisen kursierten Geschichten von Kindern, die auf die Behandlung nicht ansprachen, schreckliche Todesfälle, die von den Verantwortlichen heruntergespielt wurden, damit die Presse nicht in einem so frühen Stadium außer Kontrolle geriet.
Annika und Line waren beide gefährdet, dachte er. Er mußte sie so schnell wie möglich impfen. Die Gemeinschaftspraxis würde bereits in dieser Woche einige Packungen Impfstoff erhalten. Es würde einen großen Andrang geben. Annika wollte alles genau wissen. Sie war wieder voller Angst, seit die Warnung vor einer Pandemie Anfang Oktober die Runde machte. Alle hatten geglaubt, daß das Schlimmste vorbei sei, aber dann kam es zu Todesfällen, acht bis neun Personen. Für Thomas bestand die Hauptaufgabe darin, zu beruhigen, obwohl er das Gefühl hatte, daß einiges außer Kontrolle war. Die ganze Gesellschaft war außer Kontrolle. Das Untergangsgefühl war mit der Finanzkrise im Jahr zuvor gekommen. In diesem Jahr hatten alle Ärzte der Gemeinschaftspraxis mehr Antidepressiva verschrieben als gewöhnlich. Besonders in wohlhabendenVierteln wie dem unteren Holmenkollhügel hatte es mehr Selbstmorde als normal gegeben, erfolgreiche Makler, die in der Garage den Motor laufen ließen oder sich am Kronleuchter im Eßzimmer aufhängten.
Häufig waren Familien mit kleinen Kindern betroffen, und die Situation von Frau und Kindern war herzzerreißend. Das beschäftigte Annika sehr, aber Thomas konnte wegen seiner Schweigepflicht nicht allzuviel erzählen. Er merkte hier im Mother India, daß sie in letzter Zeit vielleicht zuviel zusammen waren, daß die meisten Gesprächsthemen verbraucht waren. Dann griffen sie meistens auf die alten zurück, besonders im Brenner-Haus. Alle drei machten sich natürlich Gedanken, wie Großvater Gordon es wohl schaffen würde, allein in dem riesigen Haus zu wohnen.
Es war schon lange unverständlich gewesen, besonders für die Geschwister von Thomas, warum die Eltern um jeden Preis in dem extrem großen Haus im Holmenkollveien wohnen wollten. Am liebsten wäre ihnen gewesen, wenn jemand dort eingezogen wäre und die Alten bei der Instandhaltung unterstützt hätte, aber dann war sowohl Thomas wie den Geschwistern klargeworden, welche Falle das sein konnte. Thomas wohnte ja bereits in einer solchen Generationengemeinschaft. Er sehnte sich in keiner Weise zurück ins Brenner-Haus. Im Gegenteil, er wäre auch gerne weg vom Dahl-Haus, aber das wagte er niemandem zu sagen, schon gar nicht Elisabeth.
Das Essen kam. Sie aßen und prosteten sich zu, lächelten dabei, immer diese kleinen Bestätigungen. In einer solchen Atmosphäre war es leichter, über Mildred Låtefoss zu reden, aber Annika wollte nichts von Scheidungen hören. Sie hatte ihre feste Meinung über Männer, besonders überdie, die sich junge Frauen suchten, aber hier handelte es sich nachweislich um eine Frau, die ging.
»Wehe, du wagst es, Papa zu verlassen, Mama. Dann erschieße ich mich. Das weißt du!«
Sie lachten alle drei. Natürlich dachte keiner von ihnen an eine Trennung. Es war ungeheuer wichtig für Annika, daß alles so blieb, wie es immer war. Trotzdem war Annika neugierig zu erfahren, was eine fast sechzigjährige Frau wie Mildred Låtefoss veranlaßte, ihren Mann zu verlassen.
»Sex kann es wohl nicht sein«, sagte Annika zweifelnd und musterte vielsagend ihre Eltern, so
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