Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
das einmal sinnvoll gewesen war, das es wert war, weiterzumachen. Denn momentan erschien alles nur schrecklich und sinnlos. Sie lag im Bett wie ein kleiner Vogel.
Er saß auf der Bettkante. Am nächsten Morgen würde sie nicht wissen, daß er dagewesen war. Er brauchte deshalb nicht länger bleiben. Er konnte jetzt gehen. Er stellte fest, daß die Gardinen nicht zugezogen waren. Er sah draußen die Straßenbahnen fahren. Dann blickte er sich im Zimmer um. Keine persönlichen Gegenstände, die darauf hinwiesen, daß hier jetzt Bergljot Brenner wohnte, abgesehen von dem Kulturbeutel und den Kleidern, die an einem Haken hingen.
Wie wenig er von ihr wußte, dachte er. So selbstverständlich war sie immer für ihn dagewesen. Immer hatte sie ihn »mein Freund« genannt. Er wollte am liebsten weinen. Sie war wahrhaftig in allem seine Freundin gewesen.Mutter und Freundin. Eine glücklichere Kindheit konnte kein Junge haben. Aber jetzt konnte sie ihn nicht mehr trösten. Jetzt genügte sie sich selbst. Jetzt war es seine Aufgabe, die Wochen, Monate oder Jahre, die sie in diesem Zimmer verbringen würde, so hell wie möglich zu gestalten. Er fühlte sich plötzlich sehr müde. Ohne es sich ganz bewußtzumachen, ließ er sich fast lautlos zu Boden gleiten. Als er nun dalag und den wachsartigen Geruch des Linoleums einatmete, schaffte er es nicht, aufzustehen. Er hatte immer noch den Mantel an. Es war so einfach, liegenzubleiben, sich nur für einen Augenblick auszuruhen, in Embryohaltung wie die Mutter im Bett. Als seien sie immer noch Mutter und Sohn, dachte er, bevor er einschlief. Als würde sie ihn am nächsten Morgen wecken, mit zärtlichen Händen, ihm einen Kuß auf die Stirn drücken und ihn fragen, ob er gut geschlafen habe.
3
Der November kam mit sonnigen Tagen. Der Fjord lag spiegelblank da. Kein Windhauch. Manchmal spürte man ein schwaches Säuseln vom Wald herunter. Ein Vorbote des Winters. Aber noch hingen an vielen Laubbäumen Blätter. Es kam vor, daß er, statt mit Janken und den andern Mittagspause zu machen, hinauf zur Tryvann-Hütte ging, um frische Luft zu tanken und die Gedanken zu ordnen. Einmal hatte er Solrunn Plesner wiedergesehen, seine ehemalige Mitschülerin. Zielbewußt marschierte sie mit ihren Stöcken einige hundert Meter vor ihm und kam rasch näher. Mit einem Satz verschwand er seitwärts in den Wald und versteckte sich hinter einem dicken Baumstamm. Da stand er mit keuchendem Atem und fühlte sich wie ein Idiot. Hatte sie ihn gesehen? Nein, sie schaute nicht in die Richtung, wo er stand. Ihr Blick war stur geradeaus gerichtet. Diese Stöcke-Menschen sagten niemals guten Tag oder hallo zu Fremden. Sie starrten verbiestert auf ihr eigenes Alter, schoben es mit ihrem ständigen Lauftraining vor sich her.
So durfte er nicht werden! dachte er. So fanatisch besessen von sich und seiner Gesundheit. Solrunn Plesner hatte einen knallroten Kopf, wie sie da von der Tryvann-Hütte hinunter nach Midstuen stapfte. Sogar aus dieser Entfernung konnte Thomas Brenner sehen, wie kaputt sie in ihrem hellblauen Synthetikdress wirkte, wie verbiestert und zugleich selbstzufrieden. Und alte Erinnerungen an sie stiegen in ihm auf. Ihre Schönheit, als sie ins Gymnasiumging. Die festen Brüste, die er einmal auf einem Fest berührt hatte. Sie war das Cat-Stevens-Mädchen, legte immer Morning has broken auf, wenn irgendwo ein Treffen der Schüler stattfand. Ihr strahlendes, schönes Gesicht. Hatte er sie nicht einmal in einer Villa auf Bygdøy geküßt? In einem Frühjahr, als im Garten die Obstbäume ihre weißen Blüten verstreuten? Stand nicht gerade die Morgensonne hoch über Ekebergåsen? Waren sie nicht plötzlich allein gewesen in dem großen Haus, weil der Gastgeber und die andern Klassenkameraden zum Fjord gegangen waren, um zu baden? Sie hatte ihn unsicher angeschaut, mit großem Ernst. Sie hatten in dem großen, vornehmen Wohnzimmer mit Bildern von Heiberg und Munch gestanden. Cat Stevens auf dem Plattenteller. Gin Tonic in den Gläsern. Und ihm war plötzlich klargeworden, wenn er mit diesem hübschen Mädchen noch einen Schritt weiter ging, würde es verbindlich werden. Ihm war in dem Moment klar gewesen, daß jetzt alles möglich wäre. Aber wäre er in dieser Situation mit ihr ins Schlafzimmer gegangen, dann nicht als einmalige Angelegenheit, die am nächsten Tag vergessen war und der Vergangenheit angehörte. Wenn er mit ihr an diesem Morgen im Schlafzimmer gelandet wäre, hätte das einen Pakt
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