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Die Unsterblichen: Roman (German Edition)

Die Unsterblichen: Roman (German Edition)

Titel: Die Unsterblichen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
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Vergangenheit, und Bergljot würde ihn trösten! Sie hatte immer für ihn Zeit gehabt. Er erinnerte sich nochundeutlich an seine frühe Kindheit, an sein erstes Kinderzimmer. Er mußte drei oder vier Jahre alt gewesen sein. Die Geschwister schliefen im Nebenzimmer. Und er weigerte sich, allein im Bett zu liegen.
    Er erinnerte sich, daß er weinte. Jeden Abend. Die Mutter und der Vater waren bei ihm gewesen. Gordon Brenner hatte nie mit seiner Frau wegen der Kindererziehung Streit gehabt. Er hörte auf sie, ließ sie bestimmen. Sie hatte das Sagen.
    Und die Mutter hatte ihm schließlich erlaubt, für einige Zeit im großen Doppelbett zu schlafen. Bei dem Gedanken, welches Glücksgefühl das gewesen war, überlief ihn immer ein wohliger Schauer.
    Eine solche Geborgenheit hatte er seitdem nie wieder erlebt. Das Gefühl, daß die Welt ausgesperrt war. Das kurze Glücksgefühl, wie wenn man in einer Hütte in den Bergen eingeschneit war. Ein Teil von etwas Begrenztem sein. Eine Gemeinsamkeit haben mit einem, von dem man völlig abhängig ist.
    Er wußte schon als Kind, daß er niemals würde allein sein können. Deshalb hatte er Angst, daß die Mutter vor ihm sterben könnte. Als Achtjähriger geriet er in panische Angst, wenn Bergljot nicht zur verabredeten Zeit mit der Straßenbahn aus der Stadt zurückkam. Wenn jemand in der Nachbarschaft starb, war er sehr verzweifelt. Wenn die Eltern stürben, wäre er ganz allein auf der Welt. Die Geschwister zählten für ihn nicht, sie waren nur Geschwister. Bergljot und Gordon dagegen waren Mutter und Vater.
    Manchmal passierten Autounfälle, bei denen beide Eltern starben. Davon hatte er in der Zeitung gelesen. Ein Ford war gegen einen LKW geprallt. Die Eltern wurden getötet, die Kinder aber überlebten. Sie waren in seinem Alter. Er konnte sich nicht vorstellen, wie das Leben für sieweitergehen sollte. Daß er seine Eltern überleben würde, sie durch Unfall oder Krankheit verlieren würde war seine größte Angst.
    Es gab so viele schreckliche Möglichkeiten, zu sterben. Der Autounfall mit dem Ford passierte an einem schönen Sonnentag. Niemand hatte da an den Tod gedacht. Der Tod war einfach gekommen, buchstäblich um die nächste Ecke.
    Er überlegte, wie es wäre, die Eltern zu begraben.
    Er war bereits bei einem Begräbnis gewesen, dem Begräbnis von Onkel Erik, er wußte also, wie ein Sarg aussah. Gordon war kurz davor gewesen, zu weinen, zuerst in der Kirche und später, als er eine Rede halten mußte. Und wie war Onkel Erik gestorben? Er war von der Leiter gefallen, als er das Haus strich. Wie oft hatte Gordon schon auf einer Leiter gestanden und das Brenner-Haus gestrichen? Und Bergljot hoch oben in den Obstbäumen im Herbst!
    Er stellte sich vor, daß wieder ein Krieg kommen würde. Warum sollte kein Krieg kommen? Er hatte diesen verrückten Mann im Fernsehen gesehen, diesen Chruschtschow. Er begriff den Ernst der Lage, wenn die Mutter und der Vater blaß wurden und nicht erlaubten, daß er mit ihnen die Nachrichten im Radio hörte. Er hatte Bilder von Hiroshima gesehen in dem großen Buch, das Bergljot von ihrem Mann zu Weihnachten bekommen hatte. Er hatte gesehen, wie Berlin im Mai 1945 aussah. Warum sollte das nicht wieder geschehen? Ihm war jedenfalls klar, daß die Mutter und der Vater dann sterben würden, daß der Vater zu den Soldaten müßte und die Mutter von den Feinden getötet werden würde. Er bliebe dann ganz allein unter wildfremden Menschen, die nicht mit ihm reden oder sich um ihn kümmern wollten. Der Gedanke, daß die Eltern nicht immer leben würden, war unerträglich.
    Er erinnerte sich an einen Abend, an dem er in ein verzweifeltes Weinen ausgebrochen war, weil er an einen Autounfall oder einen Weltkrieg gedacht hatte: »Ich will zusammen mit euch sterben!« Bergljot hatte ihn auf den Schoß genommen, ihm über den Kopf gestrichen und ihn getröstet. Sie hatte gesagt: »Das kriegen wir sicher hin, mein Junge, wenn du willst. Denk jetzt nicht mehr daran.« Aus ihrem Mund gab es nie ein Nein. Sie hatte ihn immer verstanden.
    Und bis vor kurzem war er von diesem Verständnis abhängig gewesen. Sie war für ihn dagewesen, immer. Erst in den letzten Monaten hatte er gemerkt, daß sich die Mutter veränderte, daß ihre Kräfte nachließen, daß es die alte Autorität nicht mehr gab, daß er sich zunehmend für sie verantwortlich fühlte. Mehr als sie für ihn.
    Aber er wollte nicht mehr zusammen mit ihr sterben. Er wollte zurückfinden in ein Leben,

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