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Die Unsterblichen: Roman (German Edition)

Die Unsterblichen: Roman (German Edition)

Titel: Die Unsterblichen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
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zwischen ihnen besiegelt, der einige Wochen später eine Verlobung verlangt hätte und einige Monate später die Heirat, denn so war das in diesen Kreisen.
    Und genauso hatte sie ihn damals angeschaut, als erforsche sie seine Gedanken, als seien sie nur allzuleicht zu lesen. Und er hatte sich geschämt, verrückt vor Begierde und trotzdem voller Zurückhaltung. Und jetzt, als er hinter dem Baum stand und sie beobachtete, wie sie in ihrer verzweifelten Einsamkeit Richtung Straßenbahn eilte, hatte er das Gefühl, daß diese Situation aus der Jugendzeit nicht so lange zurücklag. Er meinte noch ihre Hüftenin seinen Händen zu spüren. Ihre Taille. Ihre Brüste. Die schönen, weit geöffneten Augen, die auf seine Entscheidung warteten. Wer hätte sich vorstellen können, daß er vierzig Jahre später hinter einem Baum stehen würde, um sich vor ihr zu verstecken, in fast panischer Angst, während sie mit Stöcken einen Waldweg entlanglief? Ja, wer von ihnen hätte sich vorstellen können, daß diese Phase ihres Lebens, mit fast sechzig Jahren, sich als so schwierig erweisen würde, so unschön und unerfreulich für sie beide? Als hätte er sie ein weiteres Mal abgewiesen und sogar noch mehr als damals, als sie jung waren. Jetzt stand er hinter einer Tanne und schämte sich seiner Härte. Woran lag es, daß er Menschen abwies, völlig unerwartet? Er war jemand, der sein Schicksal nicht selbst in der Hand hatte. Immer schoben und formten ihn andere. Doch im tiefsten Innern hatte er einen Blick, ein Auge. In besonderen Situationen konnte er sich auf diesen Blick verlassen und wußte, was er tun sollte. Der Blick konnte seine Entscheidung nicht begründen, konnte ihn nur dazu bringen, ja oder nein zu sagen. Und die Absolutheit der Antwort überraschte ihn jedesmal. So wie es ihn überraschte, daß er nun hinter einem Baum stand und eine Frau beobachtete, die zum Stockmenschen geworden war und mit der er keinen Kontakt mehr haben wollte. Zum Glück wurde nicht sein sechzigster Geburtstag gefeiert. Dann hätte er sich mit solchen Frauen wie Solrunn Plesner und Mildred Låtefoss beschäftigen müssen. Dann hätte er seine Vergangenheit reflektieren und tiefer nachdenken müssen, aus Gewissensgründen, hätte über den Lebensweg nachdenken müssen, den seine innere Stimme für ihn vorgesehen hatte, mit kompromißlosen Ja- und Nein-Entscheidungen, von denen er sich, wie er meinte, lenken ließ.
     
    Seine Nerven wurden empfindlicher, je näher der große Tag kam. Elisabeths sechzigster Geburtstag. Ein Tag, dessen Bedeutung weder Solrunn Plesner noch Mildred Låtefoss begreifen konnten.
    Seine Zwangsvorstellungen hatten sich wieder gemeldet. Davon war er jetzt viele Jahre verschont geblieben. Bereits am Morgen fing die Hölle an. Er mußte die Gläser in einer bestimmten Reihenfolge auf den Tisch stellen. Er mußte, wenn er die Treppe im Dahl-Haus nach unten ging, mit dem linken Bein beginnen. Im Wald war es plötzlich für ihn wichtig, ausgewählte Steine wegzukicken, um seinen Weg fortsetzen zu können. In der Arztpraxis legte er Regeln für normales Verhalten fest. Er nahm sich beispielsweise vor, jeden Patienten während der Konsultierung auf die eine oder andere Weise zu berühren, wenn dieser ihm nicht beim Hereinkommen die Hand gegeben hatte, was viele unterließen. Das führte manchmal zu Peinlichkeiten, wenn er aufstand, um am anderen Ende des Sprechzimmers etwas zu holen und dabei wie zufällig stolperte, nur damit er den Arm oder den Rücken des Patienten berühren konnte.
    Lächerlich, dachte er, aber es gelang ihm nicht, etwas dagegen zu tun. Sobald er diesen Zwangsvorstellungen einmal nachgegeben hatte, waren sie nicht mehr zu stoppen. Ständig ging es darum, Regeln festzulegen. Manchmal, wenn er allein im Volvo saß, mußte er auf der Straße im Zickzack fahren, bis ihm ein Auto entgegenkam. Die schlimmsten Einfälle hatten mit dem Essen zu tun. Daß er eine Bratwurst mit Brot kaufen und essen mußte, damit Line nicht starb. Daß es unabdingbar war, ein Einkronen-Eis zu verzehren, damit Annika nicht Krebs bekam, und gerade jetzt: daß er die Rinde der Tanne essen mußte, hinter der er stand, damit sich der Knoten in Elisabeths Brust nicht als bösartig erwies.
    Er besaß genügend innere Distanz, um zu erkennen, daß alle diese Situationen erniedrigend waren. Er war ein rationaler Mensch. Religiöse Anwandlungen hatte er immer als Aberglauben abgetan, obwohl er auf der allgemeinmenschlichen Ebene jedesmal gerührt

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