Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
war, wenn er in eine Kirche ging und Menschen sah, die am Altar knieten und eine Kerze anzündeten. Deshalb verwirrte es ihn, daß er all diese Dinge machte, zu denen ihn etwas in seinem Kopf zwang. Was brachte ihn dazu, diesen Gedanken zu gehorchen, die immer unvorhergesehener auftauchten?
Es war grauenvoll, wieviel Zeit von diesen kranken Gedanken aufgefressen wurde. Sie kamen manchmal beim Telefonieren. Er verlängerte dann das Gespräch, weil er die Idee hatte, es müsse mindestens fünf Minuten dauern, auch wenn nur um ein Rezept gebeten wurde. Weil er Arzt war, wußte er sogar den lateinischen Namen seines Leidens. Warum wollte er dann nicht die medizinisch notwendigen Konsequenzen ziehen?
Andererseits war es gerade für Ärzte schwierig, dachte er, sich bei Krankheit in die Hände anderer Autoritäten zu begeben. Wenn sie es aber tatsächlich taten, schworen sie darauf, so als hätten sie sich nach der Autorität eines anderen gesehnt. Er kannte Kollegen, die Krebs hatten und falsch behandelt wurden. Sie wagten es nicht, die Behandlung abzubrechen. Sie ließen sich falsch behandeln! Als habe sich die Autorität, die sie selbst ausgeübt hatten, in Wohlgefallen aufgelöst, sobald sie sich als Patienten definierten. Sie ergaben sich. Vielleicht war das der Grund, warum er seine Probleme nicht in Angriff nahm. Weil er nicht zum Patienten werden wollte. Er klammerte sich an eine Autorität, die er nicht hatte, an die aber andere glaubten. Wie lächerlich.
Endlich kam der große Tag. Elisabeth sollte gefeiert werden. Thomas Brenner glaubte, dieses Fest so gründlich vorbereitet zu haben, daß aus seiner Sicht eigentlich nichts schiefgehen konnte. Trotzdem blieb die Tatsache, daß es keine Sicherheit gab, daß jederzeit das Haus einstürzen oder der Boden unter ihm verschwinden konnte. Wie der Autounfall bei schönstem Wetter um die nächste Ecke kam.
Das größte Problem war, was man mit den Alten machen sollte. Was Tulla und Kaare betraf, wagte er keinerlei Voraussagen. Darum kümmerte sich Elisabeth. Als sie sagte, ihre Eltern müßten bei dem Fest anwesend sein, koste es, was es wolle, überraschte ihn das nicht.
Besonders Kaare war ein Risikofaktor. Er befand sich in einem präsenilen Stadium, und es bestand die Gefahr, daß er alle Reden mit eigenen Ideen und Wortspielen unterbrach. Zum Leidwesen von Tulla und der Tochter wurden diese Bemerkungen immer unanständiger und anzüglicher. Ein typisches Kennzeichen alternder Männer, dachte Thomas Brenner, daß sie mit schwindender Potenz mehr von Sex redeten. Kaare fand auch nichts dabei, laut zu furzen, und erlaubte sich dazu gerne ein übermütiges Lachen. Tulla versuchte gewöhnlich, solidarisch mit ihrem Mann zu sein und ebenfalls zu lachen. Aber mehr und mehr erstarrten das Lachen und der Kontakt zu anderen. Fernsehen, Kreuzworträtsel, Illustrierte und die Aussicht aus dem oberen Stockwerk füllten ihre Zeit. Nach langem Hin und Her beschloß Elisabeth, den Vater doch nicht teilnehmen zu lassen.
Daß Tulla den sechzigsten Geburtstag ihrer Tochter mitfeierte, war jedoch selbstverständlich. Sie hatte immer eine Schwäche für große Feste gehabt. In der letzten Zeit hatte sie die Tochter stundenlang in Beschlag genommen, umfür das Ereignis die richtige Kleidung auszuwählen. Aber auch Tullas Anwesenheit würde nicht ohne Risiko sein. Sie hatte keinen Bezug zur Zeit mehr. Oft kochte sie für alle im Haus, ohne es vorher abzusprechen. Die Qualität des Essens war katastrophal, meistens zuviel Salz und Fleisch oder Fisch, das bereits seit Jahren in der Tiefkühltruhe lag. Sie hatte die Einstellung gewonnen, je älter, um so besser, Jahrgangsmahlzeiten. Sogar hart gewordenes Fleisch, das ohne Verpackung an der Wand der Tiefkühltruhe klebte, weckte ihre Begeisterung. »Das muß schließlich gegessen werden«, sagte sie dann, »wäre jammerschade, es wegzuwerfen.« Elisabeth machte sich nicht die Mühe, der Mutter zu erklären, daß ihre Essenseinladungen, die keine Ablehnung duldeten, etwas unerwartet kamen. Tulla war es gewöhnt, daß die Tochter kam, wenn sie rief. In jeder Situation war Tulla Dahl die wichtigste Person. Deshalb, so dachte Thomas Brenner, war es durchaus wahrscheinlich, daß die Schwiegermutter mehr oder minder bewußt alle Aufmerksamkeit auf sich zog, auch bei einem Anlaß wie diesem. Ihr ganzes Leben hatte sie in einem dienenden Beruf gearbeitet, und sie wollte nun im Privatleben die herrschende Position.
In dieser Hinsicht
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