Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
er sich fast die Zunge ab. All die Wut, all die Verzweiflung, die in ihm brodelte, durfte nie zum Ausbruch kommen, dachte er. Niemals! Es wäre ein leichtes, zurückzuschreien. Vater und Sohn könnten sich Tag für Tag anschreien. Aber das durfte nicht geschehen. Das durfte niemals geschehen! Thomas Brenner wußte, daß es für den Vater eine kleine persönliche Tragödie war, daß die Abendzeitung nicht gekommen war. Er mußte Gordon auf andere Gedanken bringen. »Ich komme morgen zu dir«, sagte er. »Dann bringe ich die Zeitung mit, und vielleicht können wir gemeinsam zu Mutter fahren.« Er hörte, daß ihn das beruhigte. Zugleich wußte er, daß der erste Besuch im Pflegeheim für den Vater keine Freude sein würde, und bei dem Gedanken, ihn dorthin zu bringen, wurde ihm voller Schrecken klar, was ihn erwartete. Ab jetzt mußte er sich gesondert um den Vater und die Mutter kümmern, was ohnehin nie funktionieren würde. Er spürte bereits das schlechte Gewissen und wußte, daß es in den kommenden Tagen, Wochen, Monaten und womöglich Jahren zunehmen würde. Die kleinen Freuden, die die Eltern während eines Tages erlebten, würden noch wichtiger werden. Er hatte gesehen, welche Freude eine Packung Büroklammern bei seinem Vater auslöste, eine Freude, die viele Stunden andauerte. Gordon versuchte wenigstens, eine gewisse Verbindung zu seinem früheren Leben beizubehalten; bei der Bank oder der Versicherung anrufen und eine Art Büro in seiner Fensternische zu haben. Mit Bergljot war es schlimmer. Sie begann aufzugeben, und er befürchtete, daß sie in eine lange und vielleicht unheilbare Resignation verfallen würde. So wie sie den Umzug ins Pflegeheim ungerührt ertragen hatte, als ginge sie das Ganze nichts an. Aber was erwartete er eigentlich?
Er beendete das Gespräch mit dem Vater, fuhr über die Smestad-Kreuzung und den Sørkedalsveien nach Majorstuen, wo er vor dem Pflegeheim parkte. In seinem Kopf waren so viele Gedanken. Er fühlte sich mehr gestreßt als sonst, und ein neuer Herzanfall war jederzeit zu erwarten. Ihn überfiel ein Gefühl der Unzulänglichkeit, wenn er an sein Leben dachte und daran, was er von der Zukunft zu erwarten hatte; welche Probleme sich lösen ließen und woes zu spät war, um etwas zu tun. Vielleicht war es für alles zu spät! dachte er, als er an der Türglocke des Heimes schellte, ohne daß jemand öffnete. Er schellte noch einmal. Versuchte es bei sämtlichen fünf Abteilungen, aber ohne Erfolg. Er sah Personal in den Fluren hin und her laufen, Afrikaner, Bosnier, Polen. Sie warfen ihm einen Blick zu, machten aber keine Anstalten, ihn einzulassen. Sie hatten zu tun. Eilten von Zimmer zu Zimmer. Es war Schlafenszeit. Jede Menge Alte und Pflegebedürftige, und das Heim war personell chronisch unterbesetzt. Natürlich, daran hätte er denken sollen! Aber jetzt stand er hier, sog die kalte, klare Oktoberluft tief in die Lungen, ohne daß es gegen den Streß half, den er fühlte. Er nahm das Handy, rief die Auskunft an und bat darum, mit dem Pflegeheim verbunden zu werden. Die Frau fand schließlich die von ihm gewünschte Nummer, aber erst nachdem sie sämtliche anderen Heime der Stadt versucht hatte.
»Sie bekommen die Nummer nun vorgelesen«, sagte sie.
»Ich wollte aber verbunden werden«, sagte er, aber die Nummer war besetzt. Er mußte wieder von vorne anfangen.
»Achtzehneinundachzig. Womit kann ich Ihnen helfen?«
Ein Mann diesmal. Von einer anderen Zentrale. Sie waren ja über ganz Norwegen verteilt. Und sie hatten ständig Angst um ihren Arbeitsplatz, denn auch in dieser Branche ging es vor allem darum, das schnelle Geld zu verdienen. Der Mann am anderen Ende der Leitung begann genau wie seine Kollegin. »Womit kann ich Ihnen helfen?« wiederholte er. Thomas Brenner brachte sein Anliegen vor.
»Damit kann ich Ihnen weiterhelfen«, sagte der Mann. Und nach dem Geräusch einiger Tasten auf dem PC : »Die gewünschte Nummer wird Ihnen vorgelesen.«
»Nein. Ich wollte verbunden werden, verdammt noch mal!« Es überraschte ihn, wie wütend er auf einmal war.
»Ach so. Damit kann ich Ihnen weiterhelfen«, sagte der Mann.
Aber Thomas Brenner ließ sich nicht stoppen. »Warum zum Teufel hört ihr nicht zu? Ist denn das so schwierig, verbunden zu werden?«
»Verzeihung«, sagte der Mann. »Gewöhnlich wollen die Leute, daß die Nummer vorgelesen wird.«
»Ich habe zweimal darum gebeten, verbunden zu werden«, sagte Thomas Brenner und hörte, daß seine Stimme
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