Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
hysterisch klang.
»Ich kann nur um Verzeihung bitten«, sagte der Mann. »Ich werde Sie jetzt verbinden. Einen schönen Tag noch.«
»Es ist nicht Tag, es ist Abend!« Thomas Brenner hörte, wie er laut wurde, wie seine Stimme der von Gordon ähnlich wurde. »Achtsamkeit!« schrie er.
»In Ordnung. Einen schönen Abend«, sagte der Mann leicht genervt. Dann stellte er die Verbindung her. Wieder besetzt.
Thomas Brenner steckte das Handy in die Tasche und begann, an die Tür zu pochen. Er merkte, wie aufgebracht er war, sicher krebsrot im Gesicht, Altmännersymptome, hoher Blutdruck, beginnender Zucker, Arterienverkalkung, Blutpfropf. Drinnen blieb ein Somalier stehen und ging zur Tür. Thomas Brenner wedelte mit den Armen. Der Somalier öffnete.
»Endlich«, stöhnte er. »Ich möchte meine Mutter besuchen.«
»Du jederzeit willkommen.«
Er ging zum Fahrstuhl und empfand Sympathie für diesen jungen Hilfspfleger, der unter den gegebenen Bedingungen sein Bestes gab. Dann fuhr er hinauf zu BergljotBrenner. Oben war es still, man hatte offensichtlich alle zu Bett gebracht. Er stand vor der Tür zum Zimmer seiner Mutter. Er spürte einen Druck in der Brust. Nur ein kurzer Moment, und er war wieder ein kleiner Junge. Er klopfte an, aber niemand antwortete. Da nahm er die Türklinke und öffnete. Abgesehen von einem schwachen Orientierungslicht lag das Zimmer im Dunkeln.
Er sah, daß sie im Bett lag. Er schlich hinein wie zu einem Kind, das eben eingeschlafen war. Er betrachtete die zerbrechliche Gestalt, die in Embryohaltung unter der dünnen Decke lag.
Auf die Intensität der Gefühle, die jetzt in ihm aufstiegen, war er nicht vorbereitet. Wenn er sie so liegen sah, freute er sich, daß sie friedlich wirkte, daß sie keine Schmerzen hatte, daß sie leicht schnarchte.
Gleichzeitig verspürte er Trauer, als würde er erst jetzt den Gedanken zulassen, daß er sie vielleicht schon bald verlieren könnte, daß sie nicht mehr die sein würde, die sie in seinem Leben gewesen war. Das erschreckte ihn auf einmal sehr. Der Gedanke, daß sie eines Tages sterben würde, erschien ihm plötzlich so gewaltig, vielleicht, weil sie so lange gelebt hatte. Je länger man lebte, um so schwieriger war es offenbar, zu sterben. Er hatte oft über dieses Phänomen nachgegrübelt, über die abrupten Selbstmorde, die Jugendliche begingen, als sei es leichter für sie, als habe sich das Leben bei ihnen noch nicht so festgesetzt, als sei ihnen das Jenseits näher, weil noch nicht soviel Zeit verstrichen war, seit sie von dort gekommen waren.
Andererseits war er nach all diesen Jahren der Fürsorge erschöpft. Trotzdem war es fast undenkbar, sich ein Leben ohne all diese Verpflichtungen vorzustellen. Ab und zu stellte sich auch die Frage, welchen Sinn das Ganze hatte. Er wußte, daß er in den letzten Monaten düstere Gedanken gedacht hatte. Sie waren so schwarz, daß sie ihn erschreckt hatten. Er war es nicht gewöhnt, die Dinge in diesem Licht zu sehen.
Deshalb hatte es ihn auch so beeindruckt, über Joan Didions Ehemann, den Schriftsteller John Gregory Dunne, zu lesen und das, was der Mann an einem der letzten Tage seines Lebens geäußert hatte. Sein Leben sei vergebens gewesen, er habe eigentlich nichts, aber auch gar nichts zuwege gebracht. Hatte er vielleicht eine Vorahnung gehabt, daß sein Leben jäh enden würde, während er am Mittagstisch saß und die Hand hob? Und seine Frau ihn bat, den Unsinn zu lassen. Aber es war kein Unsinn. Es war Ernst. Es war der Augenblick des Todes.
Und das war ein so fürchterlicher Gedanke, dachte Thomas Brenner, daß das Leben vergeblich gewesen sein sollte.
Wen gab es, um den er sich in diesem Augenblick nicht sorgte? Er sorgte sich ja sogar um sich selbst.
Außerdem mußte er endlich zugeben, daß ihn der Vorfall, der sich an diesem Tag in seinem Sprechzimmer ereignet hatte, ziemlich belastete und daß er beharrlich versuchte, ihn zu verdrängen.
Er sah bereits sein Foto auf der ersten Seite einer Illustrierten prangen. Er wußte, daß eine Reihe unvorteilhafter Aufnahmen von ihm existierten. Die Zeitungen würden sie sicher ausfindig machen. Bilder, auf denen er anbiedernd lächelte. Und alle Verwandten und Bekannten würden von dem Skandal erfahren.
Entsetzlich! Einfach entsetzlich! Er setzte sich bei seiner Mutter auf die Bettkante, achtete darauf, sie nicht zu wecken. Dabei hätte er am liebsten mit ihr den Platz getauscht. Ja, er würde im Bett liegen, in Embryohaltung wie in ferner
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