Die Unsterblichen
wüsste. Also sollte ich wohl nicht so überrascht sein.
Damen ist ein Spieler, ganz einfach.
Heute Abend war nur zufällig ich an der Reihe.
»Ever«, sagt er und fährt mir mit dem Daumen über die Wange. Und gerade als ich Anstalten mache zurückzuweichen und seine Ausreden nicht hören will, sieht er mich an und flüstert: »Ich sollte wahrscheinlich lieber auch gehen.«
Ich suche seine Augen, und mein Verstand akzeptiert eine Wahrheit, die mein Herz lieber weit von sich weisen würde. Ich weiß, dass an dieser Aussage mehr dran ist, Worte, die er nicht hinzugefügt hat: Ich sollte gehen - damit ich sie noch einholen kann.
»Okay, na ja, danke, dass du gekommen bist«, sage ich endlich und höre mich weniger wie eine künftige feste Freundin an, sondern mehr wie eine Kellnerin nach einer besonders langen Schicht.
Doch er lächelt nur, zieht die Feder aus meiner Perücke und streicht damit meinen Hals hinab. Dann tippt er mir mit der Spitze auf die Nase und fragt: »Als Andenken?«
Ich habe kaum eine Chance zu antworten, da sitzt er schon in seinem Auto und fährt davon.
Langsam sinke ich auf die Stufen, den Kopf in den Händen, während meine Perücke gefährlich schwankt, und wünsche mir, ich könnte einfach verschwinden, durch die Zeit zurückreisen und noch einmal neu anfangen. Ich weiß, ich hätte ihm niemals erlauben dürfen, mich zu küssen, hätte ihn nicht hereinbitten sollen ...
»Da bist du ja!«, sagt Sabine, packt mich am Arm und zieht mich auf die Beine. »Ich habe dich überall gesucht. Ava hat sich bereiterklärt, noch lange genug zu bleiben, um dir die Zukunft zu deuten.«
»Aber ich will meine Zukunft nicht gedeutet haben«, wehre ich ab; ich möchte sie nicht kränken, aber ich will auch nicht mitmachen. Ich möchte einfach nur in mein Zimmer gehen, diese Perücke abnehmen und in einen langen, traumlosen Schlaf sinken.
Sabine hat sich ordentlich Partypunsch genehmigt, was bedeutet, dass sie zu angesäuselt ist, um zuzuhören. Also schnappt sie sich meine Hand und führt mich ins Fernsehzimmer, wo Ava wartet.
»Hallo, Ever.« Ava lächelt, als ich auf den Stuhl sinke, den Rand des Tisches umklammere und darauf warte, dass Sabines trunkene Energie verfliegt.
»Lass dir ruhig Zeit.« Wieder lächelt sie.
Ich betrachte die Tarotkarten, die vor mir ausgelegt sind. »Ah, nehmen Sie's nicht persönlich, aber ich möchte mir nicht die Karten legen lassen«, sage ich und schaue ihr kurz in die Augen, ehe ich den Blick abwende.
»Dann werde ich das auch nicht tun.« Sie sammelt die Karten ein und beginnt, sie zu mischen. »Was hältst du davon, wenn wir einfach nur so tun, um deiner Tante eine Freude zu machen? Sie sorgt sich um dich. Fragt sich, ob sie alles richtig macht - ob sie dir nicht genug Freiheit lässt, ob sie dir zu viel Freiheit lässt.« Sie sieht mich an. »Was meinst du?«
Ich zucke mit den Schultern und verdrehe die Augen. Das kann man ja wohl kaum als Offenbarung bezeichnen.
»Weißt du, sie wird heiraten.«
Verblüfft sehe ich auf, und mein Blick begegnet dem ihren.
»Aber nicht heute.« Ava lacht erneut. »Und auch nicht morgen. Also keine Angst.«
»Warum soll ich denn Angst haben?« Ich rutsche auf meinem Stuhl herum und sehe zu, wie sie den Kartenstapel in zwei Hälften teilt, ehe sie die Karten zu einem Halbmond auslegt. »Ich will doch, dass Sabine glücklich ist, und wenn sie das glücklich macht -«
»Das stimmt. Aber du hast im letzten Jahr schon so viele Veränderungen erlebt, nicht wahr? Veränderungen, mit denen du immer noch klarzukommen versuchst. Es ist nicht einfach, stimmt's?« Sie sieht mich an.
Ich antworte nicht. Und warum sollte ich auch? Bisher hat sie nichts annähernd Weltbewegendes oder Erkenntnisreiches von sich gegeben. Das Leben ist voller Veränderungen, so was aber auch. Ich meine, geht's nicht mehr oder weniger genau darum? Zu wachsen und sich zu verändern und weiterzumachen? Außerdem ist Sabine ja nicht gerade ein Rätsel. So komplex ist sie wirklich nicht oder so schwer zu begreifen.
»Also, wie kommst du mit deiner Gabe zurecht?«, erkundigt sich Ava und dreht ein paar Karten um, während sie andere unaufgedeckt liegen lässt.
»Mit meiner was?« Ich starre sie an und frage mich, worauf sie hinauswill.
»Mit deiner hellseherischen Gabe.« Lächelnd nickt sie mit dem Kopf, als wäre das eine Tatsache.
»Ich weiß gar nicht, wovon Sie reden.« Ich presse die Lippen zusammen, schaue mich im Zimmer um und sehe Miles und Eric
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