Die Unsterblichen
wird. Wie sie jedes Jahr, das verging, dieser wichtigen zweistelligen Zahl näher brachte. Und unwillkürlich frage ich mich, ob das der Grund dafür ist, dass sie hier ist. Da ich sie um ihren Traum gebracht habe, bleibt ihr nichts anderes übrig, als ihn durch mich zu leben.
»Na ja, ich enttäusche dich ja nur sehr ungern«, antworte ich schließlich. »Aber bestimmt hast du ja längst erraten, was für ein totaler Rohrkrepierer ich auf dem Gebiet von Teenagerträumen bin.« Scheu schaue ich zu ihr auf, und mein Gesicht läuft rot an, als sie zustimmend nickt. »Diese ganze verheißungsvolle Nummer damals in Oregon? Mit den Freundinnen, dem Freund, der Cheerleader-Geschichte? Erledigt. Kaputt. Vorbei. Und die zwei Freunde, die ich hier in der Schule auftreiben konnte? Na ja, die reden nicht mehr miteinander. Was unglücklicherweise heißt, dass sie kaum noch mit mir reden. Und obwohl es mir dank irgendeines abgefahrenen, unerklärlichen, unvorstellbaren Glücksfalles gelungen ist, mir einen tollen, sexy Freund an Land zu ziehen, also, die Wahrheit ist, so toll ist das auch nicht. Denn wenn er sich nicht gerade total komisch benimmt oder sich urplötzlich in Luft auflöst, na ja, dann bringt er mich dazu, die Schule zu schwänzen und beim Pferderennen zu wetten und alle möglichen anderen schäbigen Sachen zu machen. Irgendwie hat er einen schlechten Einfluss auf mich.« Ich winde mich; zu spät wird mir klar, dass ich nichts davon hätte preisgeben sollen.
Doch als ich sie wieder ansehe, ist deutlich zu erkennen, dass sie nicht zuhört. Sie starrt auf die Arbeitsplatte, und ihre Finger zeichnen die Wirbel in dem schwarzen Granit nach, während ihre Gedanken ganz woanders unterwegs sind.
»Bitte sei nicht böse«, sagt sie schließlich und sieht mich mit so großen ernsten Augen an, dass es sich anfühlt wie ein Schlag in den Magen. »Aber ich war heute den ganzen Tag bei Ava.«
Ich presse die Lippen zusammen und denke: Das will ich nicht hören. Ich will das absolut nicht hören! Dabei umklammere ich die Kante der Arbeitsplatte und wappne mich gegen das, was kommt.
»Ich weiß, du magst sie nicht, aber sie sagt ein paar echt kluge Sachen, und sie bringt mich wirklich zum Nachdenken. Du weißt schon, über die Entscheidungen, die ich getroffen habe. Und, na ja, je mehr ich darüber nachdenke, desto klarer wird mir, dass sie vielleicht Recht hat.«
»Womit könnte die schon Recht haben?«, frage ich, presse die Worte an dem Kloß in meiner Kehle vorbei und denke im Stillen, dass dieser Tag sich von echt mies zu total ätzend entwickelt hat und dass er noch lange nicht vorbei ist.
Riley sieht mich an, dann schaut sie weg; ihre Finger zeichnen immer noch die Steinwirbel nach, während sie sagt: »Ava meint, ich sollte nicht hier sein. Dass ich nicht hier sein dürfte.«
»Und was sagst du dazu?« Scharf ziehe ich die Luft ein und wünsche mir, sie würde aufhören zu reden und das alles zurücknehmen. Ich kann sie unmöglich verlieren, nicht jetzt, niemals. Sie ist alles, was ich noch habe.
Ihre Finger kommen zur Ruhe, als sie zu mir aufsieht. »Ich sage, ich bin gern hier. Ich sage, auch wenn ich nie selber ein Teenager sein werde, kann ich das wenigstens durch dich erleben. Du weißt schon, indirekt.«
Obwohl ich mich bei ihrer Bemerkung schuldig und grauenvoll fühle und diese Worte alle meine Überlegungen bestätigen, versuche ich, das Ganze ein wenig leichter zu machen, als ich erwidere: »Großer Gott, Riley, ein schlechteres Beispiel hättest du dir echt nicht aussuchen können.«
Sie verdreht die Augen und stöhnt. »Kann man wohl sagen.« Doch obgleich sie lacht, erlischt das Licht in ihren Augen schnell, als sie hinzusetzt: »Aber was ist, wenn sie Recht hat? Ich meine, was ist, wenn es falsch ist, dass ich hier bin?«
»Riley-«, setze ich an, doch da klingelt es an der Tür, und als ich wieder zu ihr hinschaue, ist sie weg. »Riley!«, brülle ich und sehe mich in der Küche um. »Riley!«, schreie ich abermals und hoffe, dass sie wieder auftaucht. Ich kann das nicht so stehen lassen. Ich weigere mich, das so stehen zu lassen. Aber je mehr ich rufe, schreie, brülle, dass sie zurückkommen soll, desto mehr begreife ich, dass ich leere Luft anschreie.
Es klingelt immer weiter an der Tür, erst einmal, dann zweimal, und dann weiß ich, dass Haven draußen steht und dass ich sie hereinlassen muss.
»Der Wachmann am Tor hat mich durchgewinkt«, sagt sie und kommt ins Haus gestürmt. Ihr Gesicht
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