Die Unsterblichen
würde er sich für ein Wettrennen aufwärmen.
»Aber ich möchte sehen, wo du wohnst. Ich war noch nie in der Wohnung von jemandem, der als Minderjähriger für sich selbst verantwortlich ist, und ich bin neugierig.« Und obgleich das eigentlich ganz locker klingen sollte, kam es eher jämmerlich und verzweifelt heraus.
Wieder schüttelt er den Kopf und schaut zur Tür, als wäre sie eine potenzielle Geliebte und er könne es gar nicht erwarten, sie kennen zu lernen.
Es ist ganz offenkundig an der Zeit für mich, die weiße Fahne zu schwenken und zu kapitulieren, trotzdem kann ich nicht anders, ich muss es noch einmal versuchen: »Aber warum?« Dann betrachte ich ihn eingehend und warte auf einen Grund.
Er sieht mich an, und sein Unterkiefer ist angespannt, als er antwortet: »Weil da das totale Durcheinander herrscht. Ein widerliches, dreckiges Durcheinander. Und ich will nicht, dass du es so siehst und einen falschen Eindruck von mir bekommst. Außerdem kriege ich das nie im Leben aufgeräumt, wenn du dabei bist, du lenkst mich nur ab.« Er lächelt, doch seine Lippen sind straff gespannt, und aus seinen Augen spricht die Ungeduld. Ganz eindeutig sind das lediglich Worte, die den Raum zwischen diesem Augenblick und jenem füllen sollen, wenn er endlich das Weite suchen kann. »Ich ruf dich heute Abend an«, sagt er und kehrt mir den Rücken zu, während er zur Tür geht.
»Und was ist, wenn ich beschließe, dir zu folgen? Was machst du dann?«, frage ich, und mein nervöses Lachen verstummt augenblicklich, als er sich zu mir umdreht.
»Tu das lieber nicht, Ever.«
Und so wie er das sagt, frage ich mich unwillkürlich, ob es jetzt Tu das lieber nicht oder Tu das LIEBER NICHT! heißen sollte. Aber es bedeutet ja so oder so dasselbe.
Nachdem Damen davongefahren ist, greife ich nach dem Telefon und versuche, Haven anzurufen. Sofort meldet sich die Mailbox, und ich mache mir nicht die Mühe, noch eine Nachricht zu hinterlassen. Denn die Wahrheit ist, das habe ich bereits mehrmals getan, und jetzt ist es an ihr, sich zu melden. Nachdem ich also nach oben gegangen bin und geduscht habe, setze ich mich an meinen Schreibtisch, fest entschlossen, meine Hausaufgaben zu machen. Doch ich komme nicht sehr weit, bevor meine Gedanken wieder bei Damen sind und bei all seinen komischen, geheimnisvollen Macken, die ich nicht länger ignorieren kann.
Sachen wie: Woher weiß er anscheinend immer genau, was ich gerade denke, wenn ich seine Gedanken überhaupt nicht lesen kann? Und wie konnte er in gerade mal siebzehn kurzen Jahren Zeit haben, in all diesen exotischen Städten zu leben und es in Kunst, im Fußball, Surfen, Kochen, in Literatur, Geschichte und so ziemlich allem anderen, was mir einfällt, so weit zu bringen? Und was ist mit seiner Art, sich so schnell zu bewegen, dass man ihn tatsächlich nur noch ganz verschwommen sieht? Und die Rosenknospen, die Tulpen und der magische Stift? Gar nicht zu reden davon, dass er einmal wie ein ganz normaler Junge redet, und im nächsten Moment hört er sich an wie Heathcliff oder Darcy oder irgendjemand anderes aus einem Buch der Bronte-Schwestern. Und dazu kommt noch dieser Moment, als er sich verhalten hat, als könne er Riley sehen, die Tatsache, dass er keine Aura hat, die Tatsache, dass Drina keine Aura hat, die Tatsache, dass ich weiß, dass er etwas verbirgt, von wegen, woher er sie wirklich kennt - und jetzt will er nicht, dass ich erfahre, wo er wohnt?
Nachdem wir miteinander geschlafen haben?
Okay, vielleicht haben wir ja wirklich nur geschlafen, aber ich finde trotzdem, mir stehen Antworten auf wenigstens einige (wenn nicht auf alle) meiner Fragen zu. Und obwohl ich nicht wirklich in die Schule einbrechen und nach seinen Unterlagen suchen kann, kenne ich doch jemanden, der das hinkriegt.
Nur bin ich nicht sicher, ob ich Riley da reinziehen sollte. Ganz abgesehen davon, dass ich gar nicht weiß, wie ich sie rufen soll, weil das bisher niemals nötig war. Ich meine, soll ich ihren Namen rufen? Die Augen schließen und sie mir herbeiwünschen?
Da es mir ein bisschen dämlich vorkommt, eine Kerze anzuzünden, begnüge ich mich schließlich damit, mit fest geschlossenen Augen mitten im Zimmer zu stehen und zu sagen: »Riley? Riley, wenn du mich hören kannst, ich muss wirklich mit dir reden. Na ja, eigentlich musst du mir so eine Art Gefallen tun. Aber wenn du's nicht machen willst, dann kann ich das total verstehen, und ich nehm's dir auch bestimmt nicht übel. Ich
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