Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks
sich her und ließ Tabaksetzlinge in den frisch gepflügten roten Boden fallen.
Ende 1941 kam ihr Vetter Fred Garret eines Nachmittags den Weg neben ihrem Feld entlanggelaufen. Er war gerade mit seinem flotten Chevrolet Baujahr 36 und modischer Kleidung aus Baltimore zurückgekommen. Noch ein Jahr zuvor waren auch Fred und sein Bruder Cliff Tabakbauern in Clover gewesen. Um zusätzlich etwas zu verdienen, hatten sie einen kleinen Lebensmittelladen für Farbige eröffnet, in dem die meisten
Kunden mit Schuldscheinen bezahlten; außerdem betrieben sie in einem alten Backsteinbau eine Kneipe, auf deren rotem Lehmfußboden Henrietta ebenso gern wie häufig tanzte. Die Gäste warfen Münzen in die Musikbox und tranken Royal Crown Cola, aber viel Gewinn warf das nicht ab. Deshalb nahm Fred irgendwann seine letzten drei Dollar und 25 Cent, kaufte sich eine Busfahrkarte nach Norden und wollte dort ein neues Leben beginnen. Wie einige andere Vettern arbeitete er in Sparrows Point im Stahlwerk des Konzerns Bethlehem Steel und wohnte in Turner Station, einer kleinen Arbeitersiedlung für Schwarze auf einer Halbinsel im Patapsco River, ungefähr 30 Kilometer von der Innenstadt Baltimores entfernt.
Als das Werk von Sparrows Point Ende des 19. Jahrhunderts eröffnet wurde, bestand Turner Station vorwiegend aus Sümpfen, Ackerland und ein paar Hütten, die durch begehbare Holzstege miteinander verbunden waren. Dann wuchs im Ersten Weltkrieg die Nachfrage nach Stahl und zog einen Strom weißer Arbeiter in die benachbarte Ortschaft Dundalk. Die Unterkünfte für schwarze Arbeiter bei Bethlehem Steel waren bald überfüllt, und so schob man sie nach Turner Station ab. In den Anfangsjahren des Zweiten Weltkrieges gab es in der Siedlung einige befestigte Straßen, einen Arzt, einen Gemischtwarenladen und einen Eismann. Aber die Bewohner kämpften immer noch um fließendes Wasser, Kanalisation und Schulen. Im Dezember 1941 wurde Pearl Harbor von Japan bombardiert, und das war, als hätte Turner Station im Lotto gewonnen: Die Nachfrage nach Stahl ging steil in die Höhe, und damit wuchs auch der Bedarf an Arbeitskräften. Der Staat pumpte Geld nach Turner Station, und nun schossen die ein- und zweistöckigen Wohnblocks aus dem Boden. Viele von ihnen standen dicht gedrängt neben- oder hintereinander, manche davon mit vier- oder fünfhundert Wohnungen. Meist waren es Backsteinhäuser, viele waren auch mit Asbestplatten verkleidet.
Manche hatten einen Hinterhof, andere nicht. Von den meisten Blocks aus sah man die über den Hochöfen von Sparrows Point tanzenden Flammen und den gespenstischen roten Rauch aus den Fabrikschornsteinen.
Sparrows Point wurde schnell zum größten Stahlwerk der Welt. Es produzierte Beton-Moniereisen, Stacheldraht, Nägel und Stahl für Autos, Kühlschränke und Kriegsschiffe. Das Werk verfeuerte pro Jahr mehr als sechs Millionen Tonnen Kohle, produzierte bis zu acht Millionen Tonnen Stahl und beschäftigte über 30 000 Arbeiter. Bethlehem Steel war in einer Zeit, in der insbesondere bei schwarzen Familien aus dem Süden große Armut herrschte, eine Goldgrube. Das sprach sich von Maryland zu den Farmen in Virginia sowie in North und South Carolina herum, und im Rahmen der großen Wanderung, wie sie später genannt wurde, strömten farbige Familien aus dem Süden nach Turner Station – ins gelobte Land.
Die Arbeit war insbesondere für die farbigen Männer hart: Sie bekamen die Tätigkeiten, die Weiße nicht anrührten. Schwarze Arbeiter wie Fred fingen in der Regel in den Eingeweiden der teilweise fertiggestellten Tanker in der Werft an: Sie sammelten die Bolzen, Nieten und Muttern ein, die den Männern, die zehn Meter höher bohrten und schweißten, aus der Hand fielen. Später konnten die Farbigen in die Ofenhalle aufsteigen, wo sie Kohle in den glühenden Hochofen schaufelten. Den ganzen Tag über atmeten sie giftigen Kohlenstaub und Asbest ein und brachten die Schadstoffe auch nach Hause zu ihren Frauen und Töchtern mit, die sie einatmeten, wenn sie die Kleidung der Männer vor dem Waschen ausschüttelten. In Sparrows Point verdienten farbige Arbeiter maximal 80 Cent die Stunde, meist weniger. Weiße Arbeiter erhielten höhere Löhne, aber Fred beklagte sich nicht: 80 Cent pro Stunde waren mehr, als sich die meisten Angehörigen der Lacks-Familie je hätten träumen lassen.
Fred hatte es geschafft. Jetzt war er nach Clover zurückgekommen und wollte Henrietta und Day überreden, es genauso zu machen.
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