Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks
Deborah blickte alle paar Sekunden zu ihm rüber, dann wieder zu mir, dann zu den Enkeln und wieder zu Zakariyya. Irgendwann verdrehte sie die Augen und steckte Zakariyya die Zunge heraus, aber er sah es nicht.
Schließlich sprach er.
»Hamse die Zeitschrift?«, fragte er, wobei er auf die Straße starrte.
Zakariyya hatte zu Deborah gesagt, er wolle den Bericht lesen, den ich für das Johns Hopkins Magazine über ihre Mutter geschrieben hatte, bevor er mit mir redete; außerdem wollte er, dass ich neben ihm saß, während er ihn las. Deborah schob mich zu seiner Bank, sprang dann wieder auf und erklärte, sie
und die Jungen würden oben auf uns warten; wir sollten uns bei dem schönen Wetter lieber draußen unterhalten, statt uns im Haus einzusperren. Es war über 35 Grad warm, und die Luftfeuchtigkeit nahm einem den Atem, aber keine von uns beiden wollte allein mit ihm in die Wohnung gehen.
»Ich kuck vom Fenster da oben zu«, flüsterte Deborah, wobei sie ein paar Stockwerke in die Höhe zeigte. »Wenn was is, wink einfach, dann komm ich runter.«
Als Deborah mit den Jungen ins Haus gegangen war, setzte ich mich neben Zakariyya und fing an zu erklären, warum ich hier war. Ohne mich anzusehen oder ein Wort zu sagen, nahm er mir die Zeitschrift aus der Hand und begann zu lesen. Jedes Mal, wenn er seufzte – was oft geschah -, schlug mir das Herz bis zum Hals.
»Scheiße!«, schrie er plötzlich und zeigte auf eine Fotounterschrift. Sie besagte, Sonny sei Henriettas jüngster Sohn. »Der is’ nich der Jüngste! Das bin ich!« Er warf die Zeitschrift zu Boden und starrte sie an. Ich erwiderte, natürlich wisse ich, dass er der Jüngste sei, und die Unterschriften hätte nicht ich geschrieben, sondern die Redaktion.
»Ich glaub, meine Geburt war’n Wunder«, sagte er. »Ich glaub, meine Mutter is erst nach meiner Geburt zum Arzt gegangen, weil se mich haben wollte. Ein Kind, das so geboren wird, wo die Mutter voll von Tumoren und krank ist, und ich hab davon keinen körperlichen Schaden? Vielleicht ist das ja alles Gottes Werk.«
Zum ersten Mal seit meiner Ankunft sah er mich an. Dann griff er an seinen Kopf und drehte einen Knopf an seinem Hörgerät. »Ich hab es abgeschaltet, damit ich nich dauernd die bekloppten Kinder hör«, sagte er und regelte die Lautstärke, bis es nicht mehr pfiff. »Ich glaub, was die Ärzte gemacht ham, war falsch. Die ham uns 25 Jahre angelogen, ham uns die Zellen vorenthalten, und dann sagen se, unsere Mutter hätte se gespendet
! Die ham se ihr gestohlen! Die Idioten kommen und nehmen uns Blut ab und sagen, se müssen Untersuchungen machen, und erzählen uns nich, dass se die ganzen Jahre an ihr verdient ham? Das is, als würden se uns’n Schild auf’n Rücken kleben, darauf steht ›ich bin’n Vollidiot, gib mir’nen Arschtritt‹. Die Leute wissen nich, dass wir arme Säue sind. Die denken wahrscheinlich, wenn die Zellen von unserer Mutter so viel gemacht haben, geht’s uns gut. Ich hoff, George Grey brennt in der Hölle. Wenn er nich schon tot wär, würd ich glatt’ne Mistgabel nehmen und ihm in’n Arsch stecken.«
Ohne nachzudenken sagte ich: »Er hieß George Gey, nicht Grey.«
»Der Name is doch scheißegal«, schimpfte er zurück. »Er hat den Leuten auch immer erzählt, meine Mutter hätt Helen Lane geheißen!« Zakariyya erhob sich, baute sich vor mir auf und schrie: »Was er gemacht hat, war falsch! Völlig falsch. So was muss man dem lieben Gott überlassen. Die Leute sagen, vielleicht hat Gott gewollt, dass er ihre Zellen nimmt und sie immer weiterleben lässt und Medizin daraus macht. Aber das glaub ich nich. Wenn der Herr’ne Krankheit heilen will, bringt er selbst die Heilung, da braucht kein Mensch mit rumzuspielen. Und man lügt nich und kloniert Leute hinter ihrem Rücken. Das is schlimm – das is an der ganzen Sache besonders verletzend. Es is, als wenn jemand in dein Badezimmer kommt, und du hast grade die Hose runter. Das is ganz schlimme Respektlosigkeit. Deshalb sag ich, er soll in der Hölle schmoren.« Plötzlich tauchte Deborah mit einem Glas Wasser neben mir auf. »Ich hab gedacht, du hast vielleicht Durst«, sagte sie. Ihre Stimme klang streng, als wollte sie sagen: Was ist denn hier los? – sie hatte gesehen, wie Zakariyya vor mir stand und mich anbrüllte.
»Alles okay hier draußen?«, fragte sie. »Ihr unterhaltet euch noch?«
»Ja«, erwiderte Zakariyya. Aber Deborah legte ihm die Hand auf die Schulter und erklärte, es sei
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