Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks
Papierstapel zum Sortieren vor mir.
»Du solltest darüber nachdenken, ob du noch eine Kopie von der Krankenakte deiner Mutter machst und sie mit allen Seiten abheftest, damit sie geordnet sind«, sagte ich.
Deborah blinzelte mich, plötzlich misstrauisch geworden, an. Sie ging durch das Zimmer zu dem anderen Bett, legte sich dort auf den Bauch und fing an, den Obduktionsbericht ihrer Schwester zu lesen. Ein paar Minuten später sprang sie auf und griff nach ihrem Lexikon.
»Sie haben bei meiner Schwester Idiotie diagnostiziert?«, sagte sie und las dann die Definition laut vor. »›Idiotie: völlig sinnlos oder verrückt‹.« Sie warf das dicke Buch zu Boden. »Das hat also angeblich mit meiner Schwester nich gestimmt? Sie war verrückt? Sie war’n Idiot? Wie können die so was machen?« Ich erklärte ihr, dass Ärzte mit dem Wort Idiotie eine geistige Behinderung bezeichneten, und auch den Gehirnschaden, der die erbliche Syphilis begleitet. »Es war so etwas wie ein allgemeiner Begriff für jemanden, der besonders langsam ist«, sagte ich.
Sie setzte sich neben mich und zeigte auf ein anderes Wort im Obduktionsbericht ihrer Schwester. »Was bedeutet das hier?«, wollte sie wissen, und ich erklärte es. Plötzlich verdüsterte sich ihr Gesicht, und sie flüsterte: »Ich will nich, dass du dieses Wort in deinem Buch schreibst.«
»Das tue ich auch nicht«, sagte ich. Und dann beging ich einen Fehler: Ich lächelte. Nicht weil ich es für lustig hielt, sondern weil ich es rührend fand, wie sie ihre Schwester schützen wollte. Sie hatte mir noch nie gesagt, dass irgendetwas in dem Buch nicht vorkommen durfte, und dieses Wort hätte ich nie verwendet – es schien mir nicht wichtig zu sein. Also lächelte ich.
Deborah starrte mich an. »Du schreibst das nicht in das Buch!«, schnauzte sie.
»Nein, mach ich nicht«, erwiderte ich und meinte es ernst.
Aber ich lächelte immer noch, mittlerweile vor allem aus Nervosität.
»Du lügst«, schrie Deborah, warf mein Tonbandgerät um und ballte die Fäuste.
»Ich lüge nicht, ich schwöre es dir. Sieh mal, ich spreche es auf Band, und dann kannst du mich verklagen, wenn ich das Wort doch schreibe.« Ich schaltete den Rekorder ein, sagte ins Mikrofon, dass ich das Wort in dem Buch nicht erwähnen würde, und schaltete ihn wieder aus.
»Du lügst!«, schrie sie noch einmal. Sie sprang vom Bett, baute sich vor mir auf und zeigte mit einem Finger in mein Gesicht.
»Wenn du nicht lügst, warum hast du dann gelächelt?« Hektisch fing sie an, Papiere in ihre Segeltuchtasche zu stopfen, während ich versuchte, ihr alles zu erklären und sie zu beruhigen. Plötzlich warf sie die Tasche auf das Bett und kam auf mich zu. Ihre Hand traf meine Brust heftig und warf mich gegen die Wand. Einen Moment lang blieb mir die Luft weg.
»Für wen arbeitest du?«, fauchte sie. »John Hopkin?«
»Was? Nein!«, schrie ich zurück, wobei ich nach Luft rang.
»Du weißt doch, dass ich auf eigene Rechnung arbeite.«
»Wer hat dich geschickt? Wer bezahlt dich?«, rief sie. Ihre Hand drückte mich immer noch gegen die Wand. »Wer hat das Zimmer hier bezahlt?«
»Das hatten wir doch alles schon!«, erwiderte ich. »Weißt du noch? Kreditkarten? Studiendarlehen?«
Zum ersten Mal, seit wir uns kannten, verlor ich die Geduld mit Deborah. Mit einem Ruck befreite ich mich aus ihrem Griff und sagte, sie solle gefälligst abhauen und sich beruhigen. Sie stand nur wenige Zentimeter von mir entfernt und starrte mich – minutenlang, wie mir schien – mit wildem Blick an. Dann grinste sie plötzlich, streckte die Hand aus, strich mir die Haare glatt und sagte: »Ich hab dich noch nie wütend gesehen
und mich schon gefragt, ob du überhaupt ein Mensch bist, weil du nie ausflippst.«
Dann erzählte sie mir – vielleicht als Erklärung für das, was gerade geschehen war – endlich von Cofield.
»Der konnte einem gut was vormachen«, sagte sie. »Ich hab ihm gesagt, ich würde eher lebendig durchs Feuer gehen, als ihn die Krankenakten meiner Mutter lesen zu lassen. Ich will nich, dass jemand anders die hat. Auf der ganzen Welt haben sie ihre Zellen, und das Einzige, was wir von unserer Mutter haben, sind die Akten und ihre Bibel. Deshalb war ich so sauer auf Cofield. Er wollte mir von den wenigen Sachen, die ich wirklich von meiner Mutter hab, noch was wegnehmen.«
Sie zeigte auf meinen Laptop auf dem Bett und sagte: »Ich will auch nich, dass du jedes Wort davon in deinen Computer tippst. Du
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