Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks
auf.
Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass die Wissenschaftler, die mit den Patienten in Crownsville experimentierten, deren Einverständnis oder das ihrer Eltern eingeholt hätten. Geht man von der Zahl der Patienten in der mehrjährigen Pneumoenzephalographie-Studie und ihrer mehrjährigen Dauer aus, waren daran, wie Lurz mir später erzählte, wahrscheinlich alle epileptischen Kinder in der Klinik beteiligt, auch Elsie. Das Gleiche gilt mit großer Wahrscheinlichkeit für mindestens eine weitere Studie, die den Titel »Anwendung von Tiefenelektroden im Schläfenbereich zur Untersuchung der psychomotorischen Epilepsie« trug und bei der Metallsonden ins Gehirn eingeführt wurden.
Nicht lange nach Elsies Tod übernahm ein neuer Heimleiter die Verwaltung von Crownsville und entließ Hunderte von Patienten, die unnötigerweise in der Einrichtung festgehalten wurden. Die Washington Post zitierte ihn mit den Worten: »Die Tür zu schließen und ihn zu vergessen ist das Schlimmste, was man einem Kranken antun kann.«
Als ich diese Zeile laut vorlas, flüsterte Deborah: »Wir haben sie nicht vergessen. Meine Mutter ist gestorben … Niemand hat mir gesagt, dass sie hier war. Ich hätte sie rausgeholt.«
Als wir Crownsville verließen, bedankte sich Deborah bei Lurz für die Informationen und sagte: »Darauf hab ich schon sehr, sehr lange gewartet, Doc.« Als er sich erkundigte, ob sie sich wohlfühlte, brach sie in Tränen aus und antwortete: »Ich hab’s meinen Brüdern ja immer gesagt, wenn man in der Vergangenheit wühlt, geht das nich mit Hass. Man muss immer dran denken, es war eine andere Zeit.«
Als wir draußen waren, fragte ich Deborah, ob mit ihr wirklich alles in Ordnung sei. Sie lachte, als wäre ich verrückt. »Das war wirklich’ne gute Idee, hier Station zu machen«, sagte sie. Dann eilte sie zum Parkplatz, stieg in ihr Auto und kurbelte das Fenster herunter. »Wohin geht’s als Nächstes?«
Lurz hatte erwähnt, dass alle eventuell noch vorhandenen alten Krankenakten aus Crownsville in den Maryland State Archives in Annapolis aufbewahrt wurden, etwa elf Kilometer von hier entfernt. Nach seiner Ansicht gab es dort vermutlich keine Unterlagen aus den Fünfzigerjahren mehr, aber er meinte, es könne nicht schaden, sich zu vergewissern.
»Jetzt fahrn wir nach Annapolis und gucken, ob se da noch mehr Akten von meiner Schwester haben?«
»Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist«, erwiderte ich.
»Möchtest du nicht lieber eine Pause einlegen?«
»Kommt gar nich in die Tüte!«, rief sie. »Wir brauchen noch
viel mehr Berichte – jetzt wird’s doch erst interessant!« Sie brauste in ihrem Auto davon, lächelte und winkte mir aus dem Fenster mit dem neuen Bild ihrer Schwester zu. Ich sprang in meinen Wagen und folgte ihr.
Als wir ungefähr zehn Minuten später auf den Parkplatz des staatlichen Archivs einbogen, wippte Deborah auf dem Sitz ihres Autos auf und ab. Die Gospelmusik dröhnte so laut, dass ich sie sogar bei geschlossenem Wagenfenster hören konnte. Als wir das Gebäude betreten hatten, ging sie geradewegs zur Rezeption, griff in ihre Tasche, zog die Krankenakten ihrer Mutter heraus und wedelte damit in Kopfhöhe in der Luft herum. Dabei sagte sie: »Meine Mutter heißt HeLa! Die is in allen Computern!«
Als die Empfangsdame erklärte, es gebe in dem Archiv keine Krankenakten über Elsie, war ich erleichtert. Ich wusste nicht, wie viel Deborah noch verkraften konnte, und fürchtete mich vor dem, was wir vielleicht finden würden.
Der Rest des Tages verging wie im Nebel. Jedes Mal, wenn wir auf unserem Weg nach Clover anhielten, sprang Deborah aus dem Auto, griff nach dem neuen Foto ihrer Schwester und hielt es allen, die wir trafen, vor die Nase: einer Frau an der Straßenecke, dem Tankwart, der Benzin nachfüllte, dem Pastor einer kleinen Kirche, Kellnerinnen. Jedes Mal sagte sie: »Hi, ich bin Deborah, und das is meine Reporterin. Vermutlich hamse schon von uns gehört, meine Mama is historisch mit ihren Zellen, und wir ham grade das Bild hier von meiner Schwester gefunden!«
Die Reaktion war jedes Mal gleich: schieres Entsetzen. Aber Deborah bemerkte es nicht. Sie lächelte nur und sagte: »Ich bin froh, dass unsere Reportage so gut läuft!«
Die Geschichte zu dem Bild wurde im Laufe des Tages immer komplizierter: »Die ist vom Weinen’n bisschen aufgequollen, weil se meine Mutter vermisst«, sagte sie irgendwann einmal.
Bei einer anderen Gelegenheit erzählte sie einer
Weitere Kostenlose Bücher