Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks
sprechen. Die Zeit wird langsam knapp.« Als er den Hörer abnahm, sagte ich: »He Sonny, hier ist Rebecca.« Daraufhin herrschte einen Augenblick lang Schweigen.
»Ich hab schon versucht, deine Telefonnummer rauszufinden«, sagte er, und meine Augen füllten sich mit Tränen. Wenn Sonny mich anrufen wollte, konnte es nur einen Grund dafür geben.
Am Muttertag, eineinhalb Wochen vor meinem Anruf, war Deborah zum Haus ihrer Nichte hinübergegangen. Sonny hatte Krabbenpuffer für sie gebacken, die Enkel waren da, alle lachten und erzählten sich Geschichten. Nach dem Essen brachte er Deborah zurück in die Wohnung, die sie so liebte, und sagte ihr gute Nacht. Am nächsten Tag blieb sie zu Hause, aß die übrig gebliebenen Krabbenkuchen, die Sonny ihr mitgegeben hatte, und sprach am Telefon mit Davon – er lernte gerade Autofahren und wollte am Vormittag zum Üben herüberkommen. Als er am nächsten Morgen wieder anrief, meldete sie sich nicht. Ein paar Stunden später fuhr Sonny wie fast jeden Tag bei ihr vorbei, um nach ihr zu sehen. Er fand sie im Bett, die Arme über der Brust gekreuzt und mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Es sah aus, als würde sie schlafen. Also berührte er sie am Arm und sagte: »Dale, Zeit zum Aufstehen.« Aber sie schlief nicht.
»Sie ist jetzt an einem besseren Ort«, sagte Sonny zu mir. »Ein Herzinfarkt unmittelbar nach dem Muttertag – genauso hätte sie es sich gewünscht. Sie hat im Leben viel gelitten, und jetzt ist sie glücklich.«
Nachdem Sonny die Tote in ihrem Bett gefunden hatte, schnitt er ihr eine Haarlocke ab und legte sie in die Bibel ihrer Mutter zu den Locken von Henrietta und Elsie. »Sie ist jetzt bei ihnen«, sagte er zu mir. »Du weißt doch, es gibt auf der ganzen Welt keinen Ort, an dem sie lieber wäre.«
Deborah war glücklich, als sie starb: Ihr Enkel Little Alfred war jetzt zwölf, stand vor der Versetzung in die achte Klasse und kam in der Schule gut zurecht. Erica, die Enkeltochter von Lawrence und Bobbette, war in die Pennsylvania State University aufgenommen worden, nachdem sie für die Aufnahmeprüfung einen Aufsatz darüber geschrieben hatte, wie die Geschichte ihrer Urgroßmutter Henrietta für sie zur Anregung für ein naturwissenschaftliches Studium geworden sei. Nachdem sie an die University of Maryland gewechselt war, hatte sie ihren Bachelor-Abschluss gemacht und einen Master-Studiengang in Psychologie belegt. Damit war sie die Erste unter Henriettas Nachkommen, die einen Hochschulabschluss besaß. Deborahs Enkel Davon war 17 und stand kurz vor dem Highschool-Abschluss. Er hatte Deborah versprochen, zum College zu gehen und mehr über Henrietta in Erfahrung zu bringen, bis er alles wusste, was man über sie nur wissen konnte. »So kann ich wirklich mit einem guten Gefühl sterben, wenn meine Zeit kommt«, hatte sie zu mir gesagt.
Als Sonny mir die Nachricht von Deborahs Tod überbrachte, starrte ich das gerahmte Bild von ihr an, das seit fast zehn Jahren auf meinem Schreibtisch stand. Darauf hat sie einen harten Blick, ihre Brauen sind gerunzelt, was ihr einen irgendwie verärgerten Ausdruck verleiht. Sie trägt ein rosafarbenes Hemd und hält eine Flasche mit rosafarbenem Benadryl in der Hand. Alles andere ist rot: ihre Fingernägel, der Ausschlag in ihrem Gesicht, die Erde unter ihren Füßen.
Nach ihrem Tod musste ich mir dieses Bild tagelang immer wieder ansehen, während ich Stunde für Stunde die Bandaufnahmen
unserer Gespräche abhörte und die Notizen las, die ich mir bei unserer letzten Begegnung gemacht hatte. Während dieses Besuchs hatten Deborah, Davon und ich irgendwann nebeneinander auf ihrem Bett gesessen, den Rücken zur Wand, die Beine ausgestreckt. Wir hatten uns gerade nacheinander zwei von Deborahs Lieblingsfilmen angesehen: Roots und den Animationsfilm Spirit , in dem ein Wildpferd von der US-Armee eingefangen wird. Sie wollte uns beide nacheinander zeigen, damit wir die Ähnlichkeiten der beiden Filme erkennen konnten – Spirit, so erklärte sie, kämpfte ebenso für seine Freiheit wie Kunta Kinte in Roots .
»Die Leute ham immer versucht, die zu unterdrücken, damit se nich machen, was se wolln, und genauso ham se’s auch mit mir und der Geschichte über meine Mutter gemacht«, sagte sie. Als die Filme zu Ende waren, sprang Deborah aus dem Bett und legte noch ein anderes Video ein. Sie drückte auf PLAY, und eine jüngere Version ihrer selbst erschien auf dem Bildschirm. Es war eines von den mehr als zehn Bändern,
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