Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks
Die Tatsache, dass so viele Wissenschaftler – ein beträchtlicher Teil davon aus führenden
Forschungseinrichtungen – unter den Klägern sind, stellt die übliche Argumentation infrage, wonach Urteile, in denen Patente auf biologisches Material verboten werden, den wissenschaftlichen Fortschritt beeinträchtigen.
Lori Andrews hat als ehrenamtliche Beraterin bisher an allen wichtigen Fällen mitgearbeitet, in denen es um die Eigentumsrechte an biologischem Material ging, unter anderem auch an dem derzeit laufenden Verfahren um die Brustkrebsgene. Nach ihren Worten haben viele Wissenschaftler die Wissenschaft genau auf den gleichen Wegen behindert, die nach der Vorstellung der Gerichte auch die Gewebespender einschlagen könnten. »Es ist schon paradox«, sagte sie zu mir. »Im Fall Moore lautete die Sorge des Gerichts: Wenn man einem Menschen die Eigentumsrechte an seinem Gewebe überlässt, würde das die Forschung behindern, weil die Leute das Material zurückhalten und Geld fordern. Aber das Urteil ist nach hinten losgegangen – es hat genau diesen kommerziellen Wert den Wissenschaftlern übertragen.« Nach Ansicht von Andrews und nach der Auffassung eines Richters am Obersten Gerichtshof von Kalifornien, der ein Minderheitenvotum formulierte, verhindert ein solches Urteil die kommerzielle Nutzung nicht. Es entfernt nur den Patienten aus der Gleichung und ermutigt die Wissenschaftler, Gewebeproben in immer größerer Zahl zu einer Handelsware zu machen. Andrews und viele andere vertreten die Ansicht, die Wissenschaftler würden deshalb ihr Material und ihre Befunde seltener weitergeben und dies werde die Forschung beeinträchtigen; außerdem fürchten sie, dass die Gesundheitsversorgung Schaden nehmen könnte.
Ihre Behauptungen werden durch eine ganze Reihe von Indizien gestützt. In einer Umfrage stellte sich heraus, dass 53 Prozent der Labors mindestens einen genetischen Test wegen Patentstreitigkeiten nicht mehr anbieten oder entwickeln, und 67 Prozent der Befragten hatten den Eindruck, dass Patente
die medizinische Forschung beeinträchtigen. Eine Einrichtung muss 25 000 Dollar an Lizenzkosten für das Gen bezahlen, an dem man die erbliche Hämochromatose – eine verbreitete Blutkrankheit – untersuchen kann, und bis zu 250 000 Dollar kostet die Lizenz des gleichen Gens für die Entwicklung eines kommerziellen Tests. Bei solchen Preisen würde es zwischen 46,4 Millionen (für Hochschuleinrichtungen) und 464 Millionen (für kommerzielle Labors) kosten, einen einzigen Menschen auf alle bekannten genetischen Erkrankungen zu testen. Die Diskussion über die kommerzielle Verwertung biologischen Materials von Menschen läuft immer wieder auf eine grundsätzliche Erkenntnis hinaus: Ob es uns gefällt oder nicht, wir leben in einer von Märkten bestimmten Gesellschaft, und Wissenschaft ist ein Teil dieser Märkte. Der Nobelpreisträger Baruch Blumberg, der Ted Slavins Antikörper für die Erforschung der Hepatitis B nutzte, sagte mir: »Ob man die Kommerzialisierung der medizinischen Forschung nun gut oder schlecht findet, hängt ganz davon ab, wie stark man vom Kapitalismus überzeugt ist.« Insgesamt betrachtet, meint Blumberg, sei die Kommerzialisierung etwas Gutes. Wie sollten wir sonst an die dringend benötigten Medikamente und Diagnosehilfsmittel kommen? Er sieht aber auch die Kehrseite. »Ich glaube, man kann mit Fug und Recht behaupten, dass es die Wissenschaft beeinträchtigt hat«, sagte er. »Der Geist der Wissenschaft hat sich gewandelt.« Wo früher freier Informationsaustausch die Regel war, gibt es heute Patente und Eigentumsrechte. »Wissenschaftler sind zu Unternehmern geworden. Das hat unsere Wirtschaft vorangebracht und Anreize für die Forschung geschaffen. Es bringt aber auch Probleme mit sich, beispielsweise Geheimnistuerei und Diskussionen darüber, wem was gehört.«
Slavin und Blumberg haben niemals Einverständnisformulare ausfüllen lassen oder Abkommen über Eigentumsübertragung
getroffen. Slavin hielt einfach seinen Arm hin und ließ sich Blut entnehmen. »Heute leben wir ethisch und kommerziell in einer anderen Zeit«, sagt Blumberg. Er stellt sich vor, dass Patienten nicht mehr so häufig Material spenden: »Sie werden wahrscheinlich ihre kommerziellen Möglichkeiten ebenso maximieren wollen wie jeder andere.«
Bei allen wichtigen wissenschaftlichen Arbeiten, die Blumberg im Laufe der Jahre geleistet hat, war er auf den freien, ungehinderten Zugang zu Gewebeproben angewiesen.
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