Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks
Richtung der Tür, dann drehte sie sich noch einmal um. »Sie öffnen diese Tür für nichts und niemanden außer für mich, haben Sie gehört?«, sagte sie. »Und verpassen Sie nichts in dem Video – das da ist der Knopf zum Zurückspulen. Wenn es sein muss, sehen Sie es sich zweimal an, aber lassen Sie sich bloß nichts davon entgehen!«
Dann ging sie und schloss die Tür hinter sich.
Was vor mir auf dem Bildschirm ablief, war eine einstündige Dokumentation der BBC über Henrietta und die HeLa-Zellen. Der Titel lautete The Way of All Flesh (»Der Weg allen
Fleisches«). Schon seit Monaten hatte ich versucht, mir eine Kopie zu besorgen. Es begann mit sanfter Musik. Eine junge Farbige – nicht Henrietta – tanzte. Ein Brite sprach mit melodramatischer Stimme den Kommentar, als würde er eine Gespenstergeschichte erzählen, die aber durchaus auch wahr sein konnte.
»Im Jahr 1951 starb in Amerika, genauer gesagt: in Baltimore, eine Frau«, sagte er und legte eine Kunstpause ein. »Sie hieß Henrietta Lacks.« Während die Musik lauter und düsterer wurde, erzählte er die Geschichte ihrer Zellen: »Diese Zellen haben die moderne Medizin verändert… Sie haben die Politik von Staaten und Präsidenten geprägt. Sie waren sogar am Kalten Krieg beteiligt. Und das alles, weil Wissenschaftler überzeugt waren, dass in ihren Zellen das Geheimnis verborgen ist, wie man den Tod besiegt …«
Wirklich faszinierend waren für mich Aufnahmen aus Clover, einer alten Plantagensiedlung im Süden Virginias, wo offenbar noch heute einige von Henriettas Verwandten lebten. Die letzte Einstellung des Films zeigte Henriettas Vetter Fred Garret; er stand in Clover hinter einer früheren Sklavenhütte, den Rücken zum Friedhof der Familie, wo Henrietta nach Angaben des Kommentators in einem anonymen Grab bestattet war.
Fred deutete auf den Friedhof und sah eindringlich in die Kamera.
»Glauben Se, die Zellen leben noch?«, fragte er. »Ich mein die im Grab.« Er hielt inne und brach in ein langes, rumpelndes Lachen aus. »Neeee«, sagte er, »glaub ich nich. Aber die da draußen in den Reagenzgläsern, die leben noch. Und das is’n Wunder.«
Der Bildschirm wurde dunkel, und mir war eines klar: Wenn Henriettas Kinder und ihr Mann nicht mit mir sprechen würden, musste ich nach Clover fahren und ihre Vettern suchen.
Als ich abends wieder im Hotel war, bekam ich endlich Sonny ans Telefon. Er sagte, er habe beschlossen, sich nicht mit mir zu treffen, nannte aber keinen Grund dafür. Als ich ihn bat, mich mit seiner Familie in Clover bekannt zu machen, entgegnete er, ich solle hinfahren und sie auf eigene Faust suchen. Dann lachte er und wünschte mir viel Glück.
10
Die andere Seite der Gleise
C lover liegt im Süden Virginias hinter ein paar sanften Hügeln abseits der Route 360 gleich hinter Difficult Creek am Ufer des River of Death. Ich bog unter einem blauen Dezemberhimmel in den Ort ein. Die Luft war warm wie im Mai, und an meinem Armaturenbrett hing ein gelber Klebezettel mit den einzigen Informationen, die Sonny mir gegeben hatte: »Man weiß nicht, wo ihr Grab ist. Achten Sie darauf, dass es Tag ist – es gibt keine Lichter, da ist es stockdunkel. Fragen Sie alle, wo Lacks Town ist.«
Das Ortszentrum von Clover begann bei einer mit Brettern vernagelten Tankstelle, auf deren Front jemand die Buchstaben RIP (»Ruhe in Frieden«) gesprüht hatte, und endete an einem leeren Platz – hier hatte früher das Depot gestanden, an dem Henrietta in den Zug nach Baltimore gestiegen war. Das Dach des alten Kinos an der Hauptstraße war schon vor Jahren eingestürzt, die Leinwand lag vergessen in einem Feld voller Unkraut. Die Läden ringsum sahen aus, als wäre vor Jahrzehnten jemand nur mal kurz zum Mittagessen gegangen und nie zurückgekehrt: In Abbott’s Bekleidungsgeschäft türmten sich an einer Wand bis zur Decke dick verstaubte Schachteln mit neuen Arbeitsschuhen; in der langen Glastheke unter einer altertümlichen Registrierkasse lagen reihenweise Herrenhemden, stärkesteif gefaltet und in Plastikhüllen. Die Lounge von Rosie’s Restaurant war mit gestapelten Stühlen, Sofas und ausgefransten Teppichen vollgestopft, alles in schmuddeligen Braun-, Orange- und Gelbtönen. Ein Schild TÄGLICH GEÖFFNET hing im Schaufenster unmittelbar über einem zweiten mit der Aufschrift GESCHLOSSEN. Im Supermarkt von
Gregory und Martin standen halb volle Einkaufswagen in den Gängen neben jahrzehntealten Lebensmittelkonserven, und die
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