Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks
Wanduhr war bei 6 Uhr 34 stehen geblieben, nachdem Martin den Laden irgendwann in den Achtzigerjahren geschlossen hatte und Leichenbestatter geworden war. Obwohl aber die Jugendlichen Drogen nahmen und die ältere Generation wegstarb, gab es in Clover nicht so viele Todesfälle, dass ein Leichenbestatter davon hätte leben können: Im Jahr 1974 hatte der Ort 227 Einwohner, 1998 waren es noch 198. Und Clover verlor das Stadtrecht. Es gab immer noch mehrere Kirchen und ein paar Friseurgeschäfte, aber die waren nur selten geöffnet. Als einziges reguläres Geschäft in der Innenstadt war das aus einem Raum bestehende Postamt geblieben, aber auch das hatte zu, als ich hinkam.
Die Hauptstraße machte den Eindruck, als könne man hier stundenlang sitzen, ohne einen einzigen Fußgänger oder ein Fahrzeug zu sehen. Vor Rosie’s aber stand ein Mann. Er lehnte sich an sein rotes Motorrad und wartete auf vorüberfahrende Autos, denen er zuwinken konnte. Er war ein kleiner, rundlicher Mann mit roten Wangen, dessen Alter irgendwo zwischen 50 und 70 liegen mochte. Die Einheimischen nannten ihn den Grüßer; er hatte einen großen Teil seines Lebens an ebendieser Straßenecke verbracht und mit ausdruckslosem Gesicht jedem zugewunken, der vorüberfuhr. Ich fragte ihn, ob er mir den Weg nach Lacks Town zeigen könne. Dort wollte ich nach Briefkästen mit dem Namen Lacks suchen und dann an die Türen klopfen, um nach Henrietta zu fragen. Der Mann sagte kein Wort, sondern winkte mir nur zu und deutete dann langsam hinter sich – auf die andere Seite der Bahngleise.
Zwischen Lacks Town und dem übrigen Clover verlief eine scharfe Grenze. Auf der einen Seite der zweispurigen Straße, die aus dem Ortszentrum herausführte, befanden sich große, sorgfältig gepflegte, sanfte Hügel, riesige Anwesen mit Pferden,
einem kleinen Teich, einem schmucken, von der Straße zurückgesetzten Haus, einem Minivan und einem weißen Gitterzaun. Unmittelbar gegenüber, auf der anderen Seite der Straße, stand ein kleiner, aus einem Raum bestehender Schuppen von ungefähr zwei Metern Breite und dreieinhalb Metern Länge. Er war aus rohen Holzbrettern zusammengenagelt, in deren Lücken Unkraut und Schlingpflanzen wucherten.
Dieser Schuppen war der Anfang von Lacks Town, einer einzigen, ungefähr eineinhalb Kilometer langen Straße, an der Dutzende von Häusern standen. Manche waren leuchtend gelb oder grün gestrichen, andere unlackiert, halb verfallen oder nahezu ausgebrannt. Hütten aus der Zeit der Sklaverei standen neben Backsteinhäusern und Wohnwagen, manche davon mit Satellitenschüsseln und Hollywoodschaukeln auf der Veranda, andere verrostet und halb kaputt. Ich fuhr die Lacks Town Road immer wieder von einem Ende bis zum anderen ab, vorüber an dem Schild ENDE DER AUSBAUSTRECKE, an dem sich die Straße in einen Schotterweg verwandelte, und vorüber an einem Tabakfeld, auf dem sich ein Basketballplatz befand – nur ein Stück roter Sandboden und ein Ring ohne Netz, der oben an einem verwitterten Baumstamm befestigt war.
Mein mitgenommener schwarzer Honda hatte irgendwo zwischen Pittsburgh und Clover den Auspufftopf verloren, so dass alle in Lacks Town mich jedes Mal hörten, wenn ich vorüberfuhr. Sie traten auf die Veranda oder schauten aus dem Fenster. Nach meiner dritten oder vierten Runde kam schließlich ein Mann, der die 70 vermutlich schon hinter sich hatte, aus einer grünen Zwei-Zimmer-Holzhütte geschlurft. Er trug einen leuchtend grünen Pullover, einen dazu passenden Schal und eine schwarze Schirmmütze. Mit steifen Armen und hochgezogenen Augenbrauen winkte er mir zu.
»Haben Sie sich verfahren?«, schrie er mir über den Lärm meines Auspuffs hinweg zu.
Ich kurbelte das Fenster herunter und sagte: »Nein, eigentlich nicht.«
»Na ja, wohin wollen Sie denn?«, fragte er. »Ich weiß, Sie sind nicht von hier.«
Ich fragte ihn, ob er schon einmal von Henrietta gehört hätte. Er lächelte und stellte sich als Cootie vor, Henriettas Vetter ersten Grades.
In Wirklichkeit hieß er Hector Henry. Die Leute nannten ihn Cootie, seit er vor einigen Jahrzehnten Kinderlähmung gehabt hatte; warum sie das taten, hatte er nie ganz verstanden. Cooties Haut war so hell, dass er als Latino durchgehen konnte, und als er mit neun Jahren erkrankte, schmuggelte ein weißer Arzt aus der Gegend ihn in das nächste Krankenhaus. Die Kliniken behandelten keine farbigen Patienten, doch der Arzt erklärte, Cootie sei sein Sohn. Ein Jahr lag Cootie
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