Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks
nicht einmal, dass er existierte. Diejenigen, die ihn kannten, hielten ihn oft für »den Nazikodex«, der für Barbaren und Diktatoren galt, nicht aber für amerikanische Ärzte.
Als Southam 1954 erstmals Menschen mit HeLa-Zellen infizierte, gab es in den Vereinigten Staaten keine offizielle Forschungsaufsicht. Politiker hatten seit der Jahrhundertwende verschiedene Gesetze erlassen, um damit Menschenversuche zu regeln, aber jedes Mal hatten Ärzte und Wissenschaftler protestiert. Bei Abstimmungen wurden die Vorschriften immer wieder abgelehnt, weil man fürchtete, sie würden den wissenschaftlichen Fortschritt behindern, obwohl andere Staaten – darunter ironischerweise auch Preußen – bereits 1891 Statuten für die Forschung am Menschen erlassen hatten.
In den Vereinigten Staaten gab es nur einen Weg, um ethische Grundsätze in der Forschung durchzusetzen, und der führte über die Zivilgerichte. Dort konnten Juristen mithilfe des Nürnberger Kodex beurteilen, ob sich ein Wissenschaftler innerhalb der ethischen Grenzen seines Berufsstandes bewegte. Einen Wissenschaftler vor Gericht zu bringen setzte aber Geld, Know-how und das Wissen voraus, dass man überhaupt als Versuchsperson für Forschungszwecke gedient hatte.
Der Begriff informed consent (Einverständnis nach Aufklärung) taucht in Gerichtsakten erstmals 1957 auf. Damals wurde vor einem Zivilgericht der Fall eines Patienten namens Martin Salgo verhandelt. Ihm hatte man wegen eines vermeintlichen Routineeingriffs eine Narkose verabreicht, und als er aufwachte, war er von der Hüfte an abwärts dauerhaft gelähmt. Der Arzt hatte ihn nicht darüber aufgeklärt, dass der Eingriff überhaupt mit Gefahren verbunden war. Der Richter entschied gegen den Mediziner und erklärte: »Ein Arzt verletzt seine Pflichten gegenüber dem Patienten und setzt sich Schadenersatzansprüchen aus, wenn er Tatsachen verschweigt, die notwendig sind, damit der Patient eine Grundlage für eine begründete Zustimmung zu der vorgeschlagenen Behandlung hat.« Und weiter schrieb er, es bedürfe »der vollständigen Offenlegung aller Tatsachen, die für eine begründete Einwilligung notwendig sind«.
In der Einverständniserklärung ging es vor allem darum, was Ärzte ihren Patienten sagen mussten; kaum beachtet wurde dagegen die Frage, wie man sie auf Forschungsarbeiten wie die von Southam anwenden konnte, in denen die Versuchspersonen nicht die Patienten des Wissenschaftlers waren. Es sollten noch Jahrzehnte vergehen, bevor irgendjemand die Frage stellte, ob Aufklärung und Einverständniserklärung auch in Fällen wie dem von Henrietta notwendig sind, in denen Wissenschaftler mit Gewebe arbeiten, das nicht mehr mit dem Körper der betreffenden Person verbunden ist.
Für die drei Ärzte jedoch, die eine Unterstützung von Southams Forschungsarbeiten ablehnten, war die Injektion von Krebszellen ohne Einverständniserklärung eine eindeutige Verletzung der grundlegenden Menschenrechte und des Nürnberger Kodex. Mandel war anderer Ansicht. Er ließ stellvertretend einen Assistenzarzt die Injektionen verabreichen, und am 27. August 1963 verfassten die drei Ärzte ein Rücktrittsgesuch, in dem von unethischen wissenschaftlichen Praktiken die Rede war. Den Brief schickten sie an Mandel und an mindestens einen Journalisten. Als Mandel das Schreiben erhielt, ließ er einen der Ärzte zu sich kommen und warf ihm vor, die drei seien wegen ihrer jüdischen Abstammung überempfindlich. Ein Mitglied des Klinikdirektoriums jedoch, der Anwalt William Hyman, hielt die drei nicht für überempfindlich. Als er von ihrer Kündigung erfuhr, wollte er die Krankenakten der Patienten aus der Studie sehen. Sein Ersuchen wurde abgelehnt. Zur gleichen Zeit, nur wenige Tage nach der Kündigung der Ärzte, erschien in der New York Times irgendwo ganz weit hinten eine winzige Meldung. Sie trug die Überschrift »Schweden bestraft Krebsspezialisten« und berichtete über einen Krebsforscher namens Bertil Björklund. Er hatte sich selbst und Patienten intravenös einen Impfstoff gespritzt, den er aus HeLa-Zellen hergestellt hatte. Diese hatte er aus George
Geys Labor in so gewaltigen Mengen erhalten, dass gescherzt wurde, er habe sie nicht injizieren müssen, sondern hätte auch ein Schwimmbecken – oder vielleicht sogar einen See – mit den Zellen füllen und zur Immunisierung darin schwimmen können. Björklund wurde wegen der HeLa-Injektionen aus seinem Institut entlassen, und auf ähnliche Maßnahmen
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