Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks
Impfstoff gegen Krebs führen. In den nachfolgenden Jahren injizierte Southam die HeLa-Zellen im Rahmen seiner Forschungsarbeiten mehr als 600 Menschen, davon waren ungefähr die Hälfte Krebspatienten. Außerdem spritzte er sie allen Patientinnen, die zu gynäkologischen Eingriffen in das Memorial Hospital des Sloan-Kettering Institute oder das angeschlossene James Ewing Hospital kamen. Wenn er überhaupt etwas erklärte, dann sagte er, es gehe um Krebsforschung. Das glaubte er auch selbst: Krebskranke stießen die Zellen weniger stark ab als gesunde Menschen; deshalb war Southam überzeugt, er könne durch die Beobachtung der Abstoßungsgeschwindigkeit bis dahin unerkannte Krebserkrankungen aufspüren.
Als Southam später wegen seiner Forschungsarbeiten vernommen wurde, wiederholte er immer wieder die gleiche Aussage: »Ob es sich dabei um Krebszellen handelt oder nicht, ist natürlich
ohne Bedeutung, denn sie sind für den Empfängerorganismus fremd und werden deshalb abgestoßen. Die Verwendung von Krebszellen hat nur den Nachteil, dass sich um das Wort Krebs so viele Ängste und Unwissenheit ranken.«
Wegen dieser »Ängste und Unwissenheit«, so schrieb Southam, habe er den Patienten nicht gesagt, dass er ihnen Krebszellen spritzte – er habe keine unnötigen Befürchtungen wecken wollen. Oder, wie er es formulierte: »Die Verwendung des gefürchteten Wortes ›Krebs‹ im Zusammenhang mit irgendwelchen medizinischen Maßnahmen an kranken Menschen schadet möglicherweise dem Wohlbefinden dieser Patienten, weil es ihnen (zu Recht oder zu Unrecht) den Eindruck vermittelt, die Diagnose laute Krebs und die Prognose sei schlecht… ihnen solche emotional beunruhigenden und gleichzeitig medizinisch bedeutungslosen Details zu verschweigen … steht in der besten Tradition verantwortungsbewussten ärztlichen Handelns.«
Aber Southam war nicht ihr Arzt, und er verschwieg ihnen keine beunruhigenden gesundheitlichen Informationen. Er täuschte sie zum eigenen Nutzen – er enthielt den Patienten Informationen vor, weil sie die Teilnahme an seiner Studie abgelehnt hätten, wenn ihnen klar gewesen wäre, was er ihnen spritzte. Und vermutlich hätte er seine Umtriebe noch jahrelang fortsetzen können, hätte er nicht am 5. Juli 1963 eine Vereinbarung mit Emanuel Mandel getroffen, dem medizinischen Leiter des Jewish Chronic Disease Hospital in Brooklyn, dessen Patienten ebenfalls an seinen Forschungsarbeiten teilnehmen sollten.
Geplant war, dass die Ärzte von Mandels Klinik in Southams Auftrag 22 Patienten die Krebszellen injizierten. Als Mandel seinen Mitarbeitern aber erklärte, sie sollten die Injektionen verabreichen, ohne den Patienten zu sagen, dass sie Krebszellen enthielten, lehnten drei junge jüdische Ärzte ab. Sie sagten,
sie würden ohne deren Zustimmung keine Versuche an Patienten vornehmen. Alle drei wussten, welche »Forschung« die Naziärzte an jüdischen Gefangenen betrieben hatten. Und sie wussten auch von dem berühmten Nürnberger Ärzteprozess.
Sechzehn Jahre zuvor, am 20. August 1947, waren sieben Naziärzte in Nürnberg im Rahmen eines internationalen Kriegsverbrecherprozesses unter Führung der Vereinigten Staaten zum Tod durch Erhängen verurteilt worden. Ihr Verbrechen bestand darin, dass sie ohne deren Einwilligung unvorstellbare Experimente an Juden gemacht hatten – unter anderem hatten sie Geschwister zusammengenäht und so siamesische Zwillinge erzeugt, oder sie hatten Menschen bei lebendigem Leib seziert, um die Funktion der Organe zu studieren.
Im Rahmen des Tribunals wurde eine aus zehn Punkten bestehende ethische Richtlinie festgelegt, die heute unter dem Namen »Nürnberger Kodex« bekannt ist und für alle Menschenversuche auf der ganzen Welt gilt. Seine erste Zeile lautet: »Die freiwillige Zustimmung der Versuchspersonen ist unbedingt erforderlich.« Das war eine revolutionäre Idee. Der Eid des Hippokrates, der im vierten Jahrhundert v. Chr. niedergeschrieben wurde, verlangte keine Zustimmung des Patienten. Und während die American Medical Association schon 1910 Richtlinien zum Schutz von Versuchstieren erlassen hatte, gab es solche Regeln für Menschen bis zum Nürnberger Prozess nicht.
Aber der Nürnberger Kodex war – wie andere ethische Richtlinien, die später hinzukamen – kein Gesetz, sondern eigentlich nur ein Empfehlungskatalog. Im Medizinstudium wurde er nicht allgemein gelehrt, und viele amerikanische Forscher, unter ihnen auch Southam, wussten angeblich
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