Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks
geschossen wurden, reisten Henriettas Zellen mit. An ihnen konnten Wissenschaftler die Auswirkungen der Raumfahrt studieren, aber auch ihren Nährstoffbedarf im Weltraum und die Frage, inwieweit Krebszellen und normale Zellen unter den Bedingungen der Schwerelosigkeit unterschiedlich reagieren. Die Befunde waren beunruhigend: Bei einer Weltraummission nach der anderen
wuchsen Zellen, die nicht krebsartig verändert waren, in der Umlaufbahn normal weiter; HeLa-Zellen dagegen wurden leistungsfähiger und teilten sich nach jedem Raumflug nur noch schneller.
Doch HeLa-Zellen waren nicht die einzigen, die sich seltsam verhielten. Seit Anfang des Jahrzehnts waren den Wissenschaftlern an allen Gewebekulturzellen zwei neue Eigenschaften aufgefallen. Erstens sah es so aus, als würden alle normalen Zellen in der Gewebekultur entweder irgendwann absterben oder von selbst eine Umwandlung (»Transformation«) durchmachen und krebsartig degenerieren. Für die Wissenschaftler, die den Mechanismus der Krebsentstehung aufklären wollten, war das eine spannende Beobachtung, denn sie legte die Vermutung nahe, dass man den Augenblick dingfest machen konnte, in dem eine normale Zelle bösartig wurde. Beunruhigend war dieses Ergebnis dagegen für jene, die mithilfe der Zellkultur medizinische Therapieverfahren entwickeln wollten.
Der Marinearzt George Hyatt, der am National Cancer Institute arbeitete, hatte das Phänomen buchstäblich hautnah erlebt. Er hatte menschliche Hautzellen in Gewebekulturen gezüchtet, um damit Soldaten zu behandeln, die schwere Verbrennungen erlitten hatten. Dann hatte er einem jungen freiwilligen Offizier eine Wunde am Arm beigebracht und sie mit den Zellen bestrichen – in der Hoffnung, sie würden dort eine neue Hautschicht bilden. Wenn es klappte, würden Ärzte künftig auch während eines Einsatzes Verwundungen behandeln können, indem sie eine Transplantation von Hautzellen vornahmen. Die Zellen wuchsen tatsächlich an, aber als Hyatt einige Wochen später eine Biopsie vornahm, waren sie alle krebsartig verändert. Er geriet in Panik, entfernte das Transplantat und versuchte nie wieder, Hautzellen zu verpflanzen. Die zweite Überraschung erlebten die Wissenschaftler an Gewebekulturzellen
durch die Beobachtung, dass sich solche Zellen stets gleich verhielten, nachdem sie transformiert und krebsartig verändert waren: Sie teilten sich auf die gleiche Weise und produzierten genau die gleichen Proteine und Enzyme, obwohl sie sich vor der bösartigen Entartung unterschiedlich verhalten hatten. Der angesehene Zellkulturexperte Lewis Coriell glaubte eine Erklärung dafür zu haben. Er veröffentlichte in einem Fachaufsatz die Vermutung, die »transformierten« Zellen verhielten sich vielleicht nicht deshalb gleich, weil sie krebsartig geworden waren, sondern weil irgendetwas – höchstwahrscheinlich ein Virus oder Bakterium – sie verunreinigt hatte und zu gleichartigem Verhalten veranlasste. Eigentlich nur nebenbei wies er auf eine Möglichkeit hin, an die andere Wissenschaftler noch nicht gedacht hatten: Offenbar, so schrieb er, verhielten sich alle transformierten Zellen genau wie HeLa, und das könnte bedeuten, dass es HeLa-Zellen waren, die die Kontamination verursacht hatten.
Kurz nachdem der Artikel erschienen war, beriefen Coriell und einige andere führende Zellkulturexperten eilig eine Zusammenkunft ein, um über den Ist-Zustand ihres Fachgebiets zu diskutieren; denn sie fürchteten, dass sich eine Katastrophe anbahnte. Mittlerweile hatte man die Methoden der Zellkultur so gut im Griff und so stark vereinfacht, dass »selbst ein blutiger Anfänger ein paar Kulturen züchten kann«, wie ein Wissenschaftler es ausdrückte.
In den Jahren zuvor hatten Wissenschaftler aus Gewebeproben von sich selbst, ihren Angehörigen und Patienten alle möglichen Zellkulturen angelegt – Prostatakrebs, Blinddarm, Vorhaut, selbst Hornhautzellen aus dem Auge. Häufig war das überraschend einfach gewesen. Mithilfe dieser wachsenden Zellbibliothek machte man historische Entdeckungen: Man fand heraus, dass Zigaretten Lungenkrebs verursachen; man klärte, wie Röntgenstrahlen und bestimmte Chemikalien normale
Zellen in Krebszellen verwandeln; und man entdeckte, warum normale Zellen das Wachstum einstellen, Krebszellen aber nicht. Am National Cancer Institute testete man an verschiedenen Zellen, darunter auch HeLa, mehr als 30 000 chemische Substanzen und Pflanzenextrakte – eine Studie, aus der schließlich einige
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