Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks
Forschungseifer darf nicht so weit getrieben werden, dass die Grundrechte und die Unversehrtheit eines Menschen verletzt werden.«
Der Entzug von Southams und Mandels Zulassung wurde jedoch ausgesetzt, und beiden wurde stattdessen eine einjährige Bewährungsfrist zugestanden. Auf Southams berufliche Stellung hatte der Fall offenbar kaum Auswirkungen: Kurz nach dem Ende der Bewährungsfrist wurde er zum Präsidenten der American Association for Cancer Research gewählt. Gleichzeitig löste der Fall aber auch die größten Veränderungen in der Aufsicht über die Forschung am Menschen aus, die es je gab.
Bevor das Aufsichtsgremium der Universität seine Entscheidung bekannt gab, hatten die negativen Presseberichte über
Southams Arbeit auch die Aufmerksamkeit der National Institutes of Health geweckt. Diese Institution finanzierte seine Forschungsarbeiten und verlangte, dass Wissenschaftler für alle Untersuchungen an Menschen deren Einverständniserklärung einholten. Als Reaktion auf den Fall Southam überprüften die NIH alle von ihnen finanzierten Institutionen und stellten dabei fest, dass man nur an neun von insgesamt 52 Einrichtungen feste Richtlinien zum Schutz der Versuchspersonen hatte. Formulare für Einverständniserklärungen wurden nur an 16 Einrichtungen benutzt. Die NIH gelangten zu dem Schluss: »In dem Umfeld, in dem der Patient an wissenschaftlichen Anstrengungen beteiligt ist, reicht das Urteilsvermögen des Wissenschaftlers als Grundlage für eine Entscheidung, welche die ethischen und moralischen Fragen in dieser Beziehung betrifft, nicht aus.«
Als Konsequenz aus den Untersuchungen erließen die NIH neue Richtlinien: Alle Finanzierungsanträge für Forschungsarbeiten an Versuchspersonen mussten von nun an durch unabhängige Gutachtergremien genehmigt werden, die aus Wissenschaftlern und Laien unterschiedlicher Rasse, sozialer Schicht und Herkunft bestanden. Auf diese Weise sollte sichergestellt werden, dass die ethischen Anforderungen der NIH einschließlich einer detaillierten Aufklärung und Einverständniserklärung eingehalten wurden.
Wissenschaftler erklärten, damit sei die medizinische Forschung dem Untergang geweiht. Einer von ihnen warnte in einem Leserbrief an das Fachblatt Science : »Wenn man uns daran hindert, offensichtlich harmlose Untersuchungen zum Verhalten von Krebszellen in Menschen anzustellen … geht 1966 als das Jahr in die Geschichte ein, in dem der gesamte medizinische Fortschritt zum Erliegen gekommen ist.«
Einige Monate später wies Henry Beecher, Anästhesist an der Harvard University, in einer Studie im New England Journal
of Medicine nach, dass Southams Arbeiten nur eine von mehreren hundert ähnlich unethischen Studien waren. Beecher veröffentlichte eine detaillierte Liste der 22 schlimmsten Übeltäter: Einige Wissenschaftler hatten Kindern das Hepatitisvirus gespritzt, andere hatten Patienten unter Narkose mit Kohlendioxid vergiftet. Southams Studie war in der Liste als Beispiel Nummer 17 aufgeführt.
Entgegen den Befürchtungen der Wissenschaftler bremsten die ethischen Richtlinien den wissenschaftlichen Fortschritt nicht. Im Gegenteil: Die Forschung blühte auf. Und in vielen Fällen war HeLa daran beteiligt.
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»Seltsamste Hybride«
I n den 1960er Jahren witzelten Wissenschaftler, die HeLa-Zellen seien so robust, dass sie vermutlich auch in Abflussrohren oder an Türklinken überleben würden. Sie waren so gut wie allgegenwärtig. Laien konnten HeLa-Zellen zu Hause nach einer Anleitung der Zeitschrift Scientific American selbst züchten, und sowohl russischen als auch amerikanischen Wissenschaftlern war es gelungen, HeLa im Weltraum wachsen zu lassen.
Henriettas Zellen waren an Bord des zweiten Satelliten, der jemals in eine Erdumlaufbahn geschossen wurde. Er startete 1960 im Rahmen des russischen Raumfahrtprogramms, und fast unmittelbar danach schoss auch die NASA mehrere Gefäße voller HeLa mit dem Satelliten Discoverer XVIII ins All. Aus Tierversuchen in simulierter Schwerelosigkeit wusste man, dass es unter Weltraumbedingungen zu Veränderungen des Herz-Kreislauf-Systems, zum Abbau von Muskeln und Knochen sowie zum Verlust von roten Blutkörperchen kommt. Außerdem war bekannt, dass die Strahlung jenseits der Ozonschicht viel stärker ist. Aber noch war nicht klar, wie sich das alles auf den Menschen auswirken würde: Würde es zu Veränderungen der Zellen oder sogar zum Zelltod kommen?
Als die ersten Menschen in die Erdumlaufbahn
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