Die unterirdische Sonne
»Soll ich dich mitnehmen?«
Sie schluckte den letzten Apfelbissen runter, warf den Rest in den Abfalleimer neben der Bank und legte die Hände auf den Rucksack, den sie vor sich auf den Boden gestellt hatte. Der Mann trug eine Brille, die irgendwie schief hing, einen braunen Schnurrbart und roch nach Alkohol. Er lächelte und nickte, und sie wusste nicht, wieso.
»Komm zufällig vorbei und seh dich hier sitzen. Edwin hat mir von dir erzählt.«
»Was denn?«, sagte sie. Ihr war kalt. Obwohl sie den Apfel gegessen hatte, war ihr schlecht vor Hunger.
»Nichts Spezielles«, sagte Haberl. »Er mag dich anscheinend sehr.«
Für einen Moment glaubte Maren, den Mann schon einmal gesehen zu haben. Sie kam nicht drauf, wo.
»Ich muss los«, sagte er. »Ein Freund von mir hat zum Abendessen eingeladen, er wird morgen fünfzig und will reinfeiern. Steig ein, bevor du noch einschneist.«
Der Mann hatte recht: Mitten im April fielen Schneeflocken aus dem schwarzen Himmel. Maren legte den Kopf in den Nacken und öffnete unwillkürlich den Mund. In dieser Sekunde war sie sich ganz sicher, dass Annabel bald aufwachen würde.
Im Auto roch es nach Bier und Rasierwasser.
Maren saß angeschnallt auf dem Beifahrersitz und sah aus dem Seitenfenster. Wegen des unangenehmen Geruchs im Auto, doch vor allem wegen der Flocken draußen, die tanzten, als gäbe es die Schwerkraft nicht.
Das Auto verließ über die Ringstraße die Kreisstadt. Maren legte die Hände an die Schläfen, als könne sie so mehr erkennen. Schwarze Felder rasten vorüber, umschwirrt von den weißen Boten einer zaubrischen, fernen Welt.
Plötzlich fiel ihr ein, wo sie den Mann schon einmal gesehen hatte. Im Café Stroh. Dort trafen sich ihre Mitschülerinnen fast täglich in der Pause oder nach dem Unterricht. Das Café lag nur eine Straße vom Gymnasium entfernt und hatte die leckersten Muffins und den besten Latte der Stadt. Die Blicke der Männer am Tresen entgingen den Mädchen nicht, aber keines von ihnen kümmerte sich darum. Wenn einer der Typen versuchte, sich ranzuwanzen, war Henrik zur Stelle, Annabels Bruder.
Henrik war siebzehn, fast einen Meter achtzig groß und Kickboxer. Annabel war ziemlich stolz auf ihn, und Maren, wenn sie ehrlich war, auch. Eigentlich gehörte das Café Stroh den älteren Schülern, jüngere brauchten eine Art Bürgen oder zumindest einen Verwandten, der sie begleitete. Maren und Annabel standen unter Henriks persönlichem Schutz. Sie waren deshalb respektiert von allen und unantastbar.
Als Maren den Mann von der Seite anschaute, war sie sich nicht mehr sicher. »Kennen Sie das Café Stroh?«
»Was?« Er schien vollständig aufs Fahren durch die schneeverwehte Nacht konzentriert zu sein. Im Licht der Scheinwerfer schienen Tausende von Flocken auf die Windschutzscheibe zuzurasen.
»Hab grad überlegt, ob ich Sie schon mal gesehen hab.«
»Ich hab den Erwin mal in der Schule besucht, sollte eine Überraschung sein.«
»Der heißt aber Edwin.«
»Und was hab ich gesagt?« Mit zusammengekniffenen Augen saß er vornübergebeugt hinterm Lenkrad.
»Erwin.«
»Ehrlich?« Er schüttelte den Kopf und schaute in den Rückspiegel. Dann nestelte er an seiner Brille und strich sich mit dem Daumen über den Schnurrbart. »Bin heut schon den ganzen Tag wirr drauf. Fühl mich nicht gut. Muss mal anhalten.«
»Wieso sind Sie nicht abgebogen? Wir müssen umdrehen.« Ihr Unbehagen, das sie seit dem Einsteigen empfunden hatte, verwandelte sich in Wut. Ihr war schlecht vom Hunger und der ekelhaften Luft. Wenn der Typ nicht sofort umdrehte, würde sie doch noch ihren Vater anrufen, damit er sie irgendwo aufgabelte. Sie umklammerte das Handy in ihrer rechten Jackentasche.
Der Mann – Maren hatte seinen Namen vergessen – hielt den Wagen an. Er schaltete den Motor aus und atmete tief ein. Dann nahm er die Brille ab, betrachtete sie, als sähe er sie zum ersten Mal, schüttelte den Kopf, stieß einen Seufzer aus, den Maren sofort bedrohlich fand.
Sie konnte nicht erklären, wieso, doch ihr brummender, leerer, missgelaunter Bauch sagte ihr, dass sie schnellstmöglich aus dem Auto rausmusste und weit weglaufen sollte.
Später erinnerte sie sich an ihre Hand an der schneekalten Fensterscheibe der Beifahrertür. Wieso ihre Hand an der Scheibe und nicht am Türgriff war, wusste sie nicht mehr.
Als sie wach wurde, kauerte sie vor dem Beifahrersitz am Boden, an Händen und Füßen mit Paketschnur gefesselt, mit einer schwarzen Decke über dem
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