Die unterirdische Sonne
steckte die Hände in seine schwarze Polyesterhose, ging zur Tür und trat dagegen.
Wie die anderen trug er dicke graue Wollsocken, keine Schuhe. Das Geräusch, das sein Tritt verursachte, klang dumpf und lächerlich. Conrad warf Sophia einen Blick zu, und wie auf ein Zeichen hin setzten sie sich an den Tisch, mit dem Rücken zur Tür. Leon fing an, im Kreis zu laufen. Maren ging ins Bad, hockte sich mit gekreuzten Beinen auf den heruntergeklappten Toilettendeckel, verschränkte die Arme und versuchte, an etwas Bestimmtes zu denken. An ihre Freundin Annabel. An ein Märchen, das gut ausging.
Das passierte an jedem der drei Tage. Eike trat gegen die Tür, Leon kreiselte durch den Raum, Sophia und Conrad setzten sich so eng nebeneinander, dass sich ihre Schultern berührten, Maren verschanzte sich im Bad.
Dann redeten sie bis zum Abend kein Wort miteinander. Die Einzige, die Gute Nacht sagte, wenn das Licht ausging, war Sophia.
Im Lauf der Zeit hatten sie Rituale entwickelt. Strategien der Selbstbehauptung. Sie wussten eigentlich nicht, wie sie es schafften. Die Angst schien ihre Empfindungen zu vereisen und gleichzeitig in ihrem Kopf gewisse Handlungsabläufe zu koordinieren, die sie dankbar annahmen.
Wenn es still war und sie auf ihren Matratzen lagen, nachts in tiefer Dunkelheit oder nach der Rückkehr von oben, setzten sie ihr wahres Leben in Gedanken fort, die auf einmal wieder da waren, vertraut und gewaltig, als schlügen Flammen aus ihrem Gehirn.
In diesen Augenblicken begriffen sie, dass sie in einer perversen Gegenwart hausten. Und ihre Vorstellungskraft reichte nicht aus, um zu begreifen, warum sie überhaupt noch am Leben waren.
In diesen wenigen Minuten hatten alle fünf das Gefühl, lebende Tote zu sein, und keiner von ihnen hätte jemals so viel Angst für möglich gehalten.
Drei, vier Minuten lang, mehrmals in einer Woche, verfaulten sie von innen her. Es kam ihnen vor, als würde ein Unsichtbarer mit einem Messer ihre Haut von den Knochen abschälen und in den Müll werfen.
Keiner der fünf erinnerte sich am nächsten Morgen an seine Träume. Sie wunderten sich bloß vage über ihr Gesicht im Spiegel.
Das unvorstellbare Wunder aber war, dass sie im künstlichen Licht des neuen Tages ihre Furcht fast vollständig vergessen hatten. Man hätte meinen können, sie gingen nach oben, um das Fürchten zu lernen, so aufrecht warteten sie an der Eisentür auf den Mann, der sie abholte.
Ohne zu stolpern, stiegen sie mit dem Sack über dem Kopf die Treppe hinauf. Sie kannten den Weg und ahnten, was sie erwartete. Keiner zögerte oder schluchzte. Keines der Mädchen klammerte sich im Kellerraum ein letztes Mal an das andere oder an einen der Jungen. Gehorsam und ohne Widerworte schienen sie den Erwachsenen gegenüberzutreten, wohlerzogene Kinder, die wussten, was sich gehörte.
Für die Frau, deren Namen die Kinder niemals hörten, stellte vor allem Leon den Inbegriff des Mustersohnes dar. Er war hier, um erzogen zu werden, und wenn er sich wehrte, war er umso nützlicher für sie. Dann blieb ihr noch mehr Zeit für die Vervollkommnung seines Wesens, das sie am liebsten jeden Tag um sich gehabt hätte.
Auch die Mädchen lehrte sie Untertänigkeit. Conrad war ihr zu alt. Und Eike, der sie anwiderte, wurde für andere Dinge gebraucht. Außerdem waren Eikes Tage auf der Insel gezählt.
Und so stumm, wie sie gegangen waren, kehrten die Jugendlichen in den Keller zurück – doch diesmal gehorchte ihr Körper ihnen nicht mehr. Deswegen musste jeder auf seine Weise die eigenen Schmerzen und Gedankenbilder besänftigen. Keiner von ihnen fand den Mut, sich den anderen anzuvertrauen. Wozu auch? Jeder wusste Bescheid, sie erlebten alle das Gleiche – glaubten sie. Und oft war es auch so.
Dann wurden sie zu zweit ins Gitterbett oder in den Zwinger gesperrt. Die Männer kamen, mit Kameras oder ohne.
Nur am Montag war jeder allein da oben, und erst recht verloren sie kein Wort über das, was ihnen widerfuhr.
So lautete die Regel: Wer spricht, stirbt.
Sie glaubten es.
An diesem Sonntag war Conrad seit genau einer Woche hier. Und seit einer Stunde kauerte er auf seiner Matratze.
Sein Bauch, seine Beine schmerzten und brannten. Obwohl sie ihm ein großes Glas Mineralwasser gegeben hatten, damit er seinen Mund ausspülen konnte, würgte er immer noch.
Mit der Wolldecke über Kopf und Schultern drehte er sich zur Wand und hoffte, niemand würde ihn ansehen. Das taten sie auch nicht. Aus Respekt und weil sie
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