Die unterirdische Sonne
Minute lang nicht bemerkte, so lange hielt der Druck seiner Hand an.
Das Auto hatte sich schon wieder in Bewegung gesetzt, sie hörte das Klacken des Blinkers und das Brummen anderer Fahrzeuge, als sie sich zaghaft aufrichtete und Mund und Nase umständlich an ihrer Schulter abwischte. Sie wollte den Mann fragen, ob er die Decke wegnehmen könne. Sie traute sich nicht.
Ihre Angst, wieder zu stottern, war zu groß.
Wenn sie eine Zeit lang still war, dachte sie, würde sie wieder ganz normal sprechen können, wie immer.
Doch dann sagte sie Hunderte von Kilometern kein Wort mehr.
Später schlief sie ein. Beim Aufwachen wusste sie nicht mehr, ob sie etwas geträumt hatte. Alles war schwarz. Immer wieder nahm sie ihren Mut zusammen und formulierte einen Satz. Jedes Wort stand fest, sie brauchte nur genügend Atem. Sie fing sogar an zu zählen. Drei, zwei, eins, los! Nichts. Keine Silbe. Sie geriet in Panik.
Womöglich war sie stumm geworden, dazu verdammt, für alle Zeit zu schweigen. Wie ihre Freundin Annabel.
Nein. Nein.
Annabel würde bald aufwachen und wieder sprechen und sich mit ihrem Bruder zoffen und Latte trinken und die Blicke der Typen am Tresen vom Café Stroh ignorieren.
Nein.
Nicht wie Annabel. Sondern wie die Taubstummen, die sie manchmal in der S-Bahn sah und die wie wild mit den Händen fuchtelten und sich toll verstanden und seltsame Laute von sich gaben.
Das wollte sie nicht. Sie wollte sprechen können und jemanden anschreien, den aufdringlichen Edwin zum Beispiel.
Edwin.
Von ihm hatte der Mann am Bahnhof gesprochen. Woher kannte er Edwin? Damit hatte alles angefangen. Sie presste die Lippen aufeinander. Und fing wieder an zu zählen. Drei, zwei, eins.
»K-kennen S-Sie den E-Edwin?« Ihre heisere Stimme war laut.
»Schrei hier nicht so rum«, erwiderte der Mann. »Ich kenn keinen Edwin.«
Maren war wieder verstummt. Sie hörte ihre Stimme, ganz deutlich, jeden Buchstaben einzeln und manche doppelt. Sie wünschte, ein hohler Baum würde sie für alle Zeit verschlingen, wie das ungezogene Marienkind im Märchen.
5
Sie hatten nie Hunger. Außer Sophia, die immer hungrig war. Sie bekamen genug zu trinken, durften fernsehen und sich duschen, so oft sie wollten und so lange immer nur einer oder eine von ihnen ins Bad ging. Die sanitären Anlagen funktionierten reibungslos und sahen neu aus. Über der Toilettenschüssel befand sich die Öffnung eines Lüftungsschachts, wie in einem gewöhnlichen, etwas veralteten Badezimmer.
Der Kellerraum wurde beheizt. Von morgens um acht bis abends um neun brannte an der Decke eine Glühbirne in einem blauen Lampenschirm. Die Matratzen und Decken waren vorher unbenutzt gewesen. Drei ausgebleichte, abgetretene rotbraune Teppiche bedeckten fast die gesamte Fläche des Bodens.
Dreimal in der Woche kam einer der Männer und ließ die Eisentür mehrere Minuten lang offen stehen, um zu lüften. Währenddessen mussten sie mit geschlossenen Augen vor der hinteren Wand knien. Sie sogen die frische, kalte Luft tief in ihre Lungen.
Maren bildete sich ein, das Meer zu riechen. Conrad überlegte, woher die Luft kam, und Eike blinzelte mit einem Auge. Eines Tages, nicht mehr lang hin, das wusste er genau, würde er aufspringen und auf den Mann losgehen. Und wenn die anderen ihm dabei halfen, würde er ihn umbringen. Dann dachte er, dass die anderen zu feige waren und der Mann ihn umbringen würde. An manchen Tagen war ihm das scheißegal, an anderen verschluckte er sich fast vor Angst.
Leon presste immer die Hände zwischen die Knie und lehnte die Stirn an die kalte Steinmauer. Schon als er noch allein im Keller gewesen war, hatte er an den Lüftungstagen an seine Mutter gedacht. Beim Putzen riss sie immer alle Fenster auf – egal, welches Wetter draußen war – und ermahnte ihn, »aus dem Zug zu gehen«.
Das hatte er lange nicht verstanden, weil sie doch beide in einem Zimmer waren und nicht in einem Zug. Er machte dann einen Schritt und wartete, wie seine Mutter reagierte. Und sie sagte: Noch weiter, ganz da rüber! Er folgte ihr, traute sich aber nicht zu fragen, wann der Zug endlich zum Fenster reinkommen würde.
Daran dachte er nach einem Jahr noch immer, wenn der Mann sie aufforderte, zur Wand zu gehen und keinen Mucks zu machen.
Sophia war die Einzige, die sich die Wochentage merkte, an denen die Aktion stattfand.
Dienstag, Donnerstag, Samstag.
Anschließend schloss der Mann wortlos die Eisentür und verschwand.
»Feige Schweine«, sagte Eike,
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