Die unterirdische Sonne
Kopf.
Vielleicht war die Decke gar nicht schwarz, sondern die Welt um sie herum.
Sie bildete sich ein, der Geruch wäre anders als vorher. Wahrscheinlich wegen der Decke. Ihr Hunger war wie weggeblasen.
Während sie in dem mit hoher Geschwindigkeit fahrenden Auto hin und her geschüttelt wurde und sich mehrmals den Kopf am Armaturenbrett anschlug, gelang ihr kein einziger klarer Gedanke.
Dann spürte sie ein Kratzen im Hals und in der Nase. Auf der Zunge hatte sie einen unangenehmen Geschmack.
Wieder krachte sie mit der Stirn gegen eine Kante.
Aber die Decke verrutschte nicht. Alles war schwarz. Sie hörte das Röhren des Motors, sonst nichts.
Als ihr bewusst wurde, dass sie Opfer einer Entführung geworden war, erschrak sie so sehr, dass sie dachte, ihr Herz würde stehen bleiben. Auch dass sie weinte, bemerkte sie erst viel später. Sie schluchzte, der Rotz lief ihr aus der Nase und sie schmeckte ihn auf den Lippen. Dann kam nur noch ein zaghaftes Wimmern aus ihrem Mund, wie von einer eingesperrten Katze. Jemand klopfte ihr mit der flachen Hand auf den Hinterkopf. Sie zuckte zusammen und verstummte.
»Alles klar, beruhig dich«, sagte jemand. Ob es die Stimme des Mannes war, der sie im Auto mitgenommen hatte, wusste sie nicht. Da fiel ihr ein, dass sie sich nicht einmal die Marke des Autos gemerkt hatte.
Sie kicherte. Wozu hätte sie sich die Automarke merken sollen? Der Entführer würde sie ermorden. Erst vergewaltigen, dann umbringen und ihre Leiche verscharren oder in einen Fluss werfen.
»Was ist los mit dir?«
Jetzt war sie sich fast sicher, dass es nicht derselbe Mann war.
»Was ist so lustig?«
Was meinte er denn? Was war lustig?, überlegte sie.
»Sag was. Mach den Mund auf.«
Sie öffnete ihren Mund. Kein Laut. Kein Wort. Die Decke roch nach Keller. Der erneute harte Schlag auf den Kopf ließ sie aufschreien.
»Fresse halten!«
Sie hatte den Eindruck, der Wagen würde langsamer fahren. In der Ferne hörte sie das Rauschen von Verkehr. Wie auf dem Waldfriedhof im Süden der Stadt, wo ihre Großmutter begraben lag, ganz nah an der Autobahn.
Sie hatte sich nicht getäuscht. Das Auto rollte im Leerlauf und blieb stehen. Der Fahrer stellte den Motor ab. Wie der andere an der Landstraße. Wie lange war das her? Womit hatte er sie betäubt? Und wieso hatte sie sich nicht gewehrt? Wann genau war sie bewusstlos geworden? Wieso hatte sie ihr Handy nicht benutzt?
»Hör mir zu.« Die Stimme war direkt über ihr. »Wenn du tust, was ich sag, passiert dir nichts. Wir machen eine kleine Reise, nichts zu jammern. Und da bleibst du dann. Hast du mich verstanden?«
Alles, was Maren zustande brachte, war ein krächzender Laut.
»Was ist?«
Sie versuchte es ein zweites Mal. Das Krächzen wurde lauter und schnarrender. Vor Schreck duckte sie sich unter der dröhnenden Stimme. »Kannst du nicht reden?« Der Mann drückte ihren Kopf nach unten, so tief, dass sie keine Luft mehr bekam.
»A-a-aufhören, b-bitte …« Sie wunderte sich über die Worte. Der Mann ließ sie los.
Sie keuchte und richtete sich vorsichtig auf. Nichts geschah. Sie lehnte sich an den Sitz und versuchte, die Beine zu strecken. Das gelang ihr, und sie fing vor Erleichterung wieder an zu weinen. Sie hörte das metallische Klacken eines Feuerzeugs. Der Mann öffnete die Fahrertür und inhalierte tief.
»D-danke«, flüsterte sie.
Nach einer Weile, während er rauchte und hörbar schnaufte, sagte der Mann: »Wie heißt du eigentlich?«
»M-Maren h-heiß ich.«
»Und du stotterst.«
»I-ich st-stotter doch n-nicht. W-wieso d-denn?« Noch glaubte sie, was sie sagte.
»Scheiß drauf.« Sie hörte, wie der Mann die Zigarette austrat, hustete und die Fahrertür zuknallte. »Du sollst da oben ja keine Reden halten. Musst du mal wohin?«
»W-wohin d-denn?«, fragte sie verwirrt.
»Pissen, was sonst?«
Sie wusste es nicht. Wie ein Echo hörte sie ihre Stimme im Kopf. Wie sie stotterte. Ganz deutlich konnte sie das Stottern hören. Zum ersten Mal. Ich stottere doch nicht, dachte sie.
»Was ist jetzt?«
Sie schüttelte den Kopf unter der Decke. Eine Hand packte sie im Nacken, wie eine Katze, und schüttelte ihren Kopf hin und her. »Ich sprech mit dir. Wenn du dir unterwegs in die Hosen machst, häng ich dich zum Trocknen an den nächsten Baum. Ist das klar?«
»J-Ja«, sagte ihre Stimme.
»Also?«
Sie hatte vergessen, was er meinte. Also sagte sie: »N-nein, d-danke.«
Nach einem Moment ließ er sie los, was sie mindestens eine
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